Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU)
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Bundeskanzler Friedrich Merz kündigt Angriffe auf den Sozialstaat an: Hinter dem „Herbst der Reformen“ verbirgt sich eine Kampfansage gegen unten. Was wird die SPD nun machen?
Der Sozialstaat, den wir heute haben, erklärte Kanzler Friedrich Merz (CDU), sei nicht mehr finanzierbar. „Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse.“ Der Satz hat Potenzial, in die politischen Annalen einzugehen, ähnlich wie einst das geflügelte Wort seines Parteifreundes Norbert Blüm von der sicheren Rente. Nur dass die rheinische Frohnatur Blüm noch ein bisschen was von den Verhältnissen der „kleinen Leute“ wusste, aus denen er stammte, während das privilegierte Briloner Gewächs das Land fast ausschließlich aus der Perspektive seiner Propellermaschine kennt und alleine durch seine Privatflüge fast so viele Emissionen ausstößt wie jeder Deutsche durchschnittlich pro Jahr.
Der von Merz mit ausgreifender Drohgebärde angekündigte „Herbst der Reformen“ ist nun zumindest parlamentarisch da. Und tatsächlich mutet seine Vorbereitung wie eine konzertierte Aktion an. Das Trommelfeuer gegen das Bürgergeld begleitet die Koalition seit ihrem Auftritt. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, flankiert von Vorschlägen eines „Boomer-Solis“ und Ähnlichem, heizt die Rentendebatte auf, neuerdings befeuert von der gar nicht dafür zuständigen Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), der einschlägige Thinktanks beispringen. Schlagzeilen vom hohen Krankenstand in Deutschland lassen Arbeitgeber Morgenluft schnuppern, sie fordern eine Begrenzung der Lohnfortzahlung. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Dass das Bürgergeld geschleift werden soll, ist ideologisch, nicht finanziell motiviert. Alle Daten widersprechen dem „Aufwuchs“ von 42 auf 52 Milliarden (seit 2015), weil sich über die Zeit nominelle Zahlen nicht vergleichen lassen. Die Segnungen des Sozialstaats kommen vor allem in der Mittelschicht an, weil Leistungen wie Rente, Kranken- und Elterngeld vom Einkommen abhängig sind. 40 Prozent aller Transferleistungen (inklusive Pensionen) landen bei der einkommensstärksten Hälfte.
Bärbel Bas zu Friedrich Merz: „Bullshit“
Wie nimmt Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) den Weckruf des Kanzlers auf? Sie kündigt eine weitere Nullrunde und härtere Sanktionen für Bürgergeld-empfänger:innen an. So schnell, wie die Parteilinke das Mäntelchen nach Opportunitäten wendet, kann man sich gar nicht umdrehen. Darüber täuschen auch keine kraftmeiernden rhetorischen Ausfälle gegen den Kanzler – „Bullshit“, wie sie vor eigenem Publikum verlauten ließ – hinweg. DGB-Chefin Yasmin Fahimi gibt ihr auf, sich lieber um die tatsächlich Verdächtigen des Sozialmissbrauchs zu kümmern: Unternehmen etwa, die ausländische Arbeitnehmer anheuern, mit miesen Verträgen ausstatten und die dann aufs Amt schicken, um Leistungen abzuholen.
Und der Sozialstaat? Es ist schon auffällig, dass überhaupt kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen steuerfinanzierten Leistungen und Sozialkassen, die von Arbeitnehmer:innen und Unternehmen bestückt werden. Den Sozialkassen geht es tatsächlich nicht gut, und der Bundesrechnungshof hat kürzlich Notmaßnahmen für die Krankenkassen angemahnt. Das hat auch damit zu tun, dass der Staat seinen Pflichten nicht nachkommt – Stichwort: versicherungsfremde Leistungen und Beiträge für die Bürgergeldempfänger. Und dass Unternehmen sich allzu gerne über die Sozialkassen sanieren, etwa wenn sie ihre Leute in die Frührente schicken.
Die Defizite der Kassen könnten auch die lange Geschichte ihrer Ausplünderung erzählen. Im Westen hat das seit den 1970er Jahren System, als sich der Staat ganz ungeniert bei ihnen bediente, so wie zuletzt der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), als er in der Corona-Zeit in die Rücklagen der Kassen griff. Für sein Masken-Fiasko werden allerdings die Steuerzahler:innen aufkommen müssen.
Theater der Grausamkeit
Gar nicht berücksichtigt sind die Finanzkräftigen, die obersten zehn Prozent, die nicht in die Kassen einzahlen und sich sowieso einen Dreck um deren Wohl und Wehe scheren. Solche wie Friedrich Merz und viele andere im Bundestag, von den Spitzen der Unternehmen, von Chefärzten und, ja, auch Krankenkassenvorständen gar nicht zu reden. Da sich Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse eben nicht nach Einkommen richten, wäre eine Bürgerversicherung tatsächlich ein Exempel für ein solidarisches System gewesen. Doch davon ist in der SPD nicht mehr die Rede.
Dennoch hat sie den Hornstoß des Kanzlers als „Kampfansage“ verstanden. SPD-Chef Lars Klingbeil muss perspektivisch 30 Milliarden für seinen Haushalt zusammenkratzen und hat angeregt, dass sich die Reichen nun doch „ein bisschen“ solidarisch zeigen könnten, per Kleinstobolus. Es gibt CDU-Abgeordnete wie Andreas Mattfeldt, die „Leute kennen, die damit kein Problem“ hätten. Man höre und staune. Man sollte sie in die Kommissionen schicken, die nun über den Sozialstaat entscheiden.
Von all dem will der Kanzler gar nichts hören. Er hat Probleme mit dem koalitionären Vorspiel auf dem Theater, das seine außenpolitischen 100 Tage vermasselt hat. Er muss liefern: nicht an Arme und auch nicht an die, die Kinder betreuen, Alte versorgen oder die Infrastruktur am Laufen halten. Sondern an die, die wie er über dem Land schweben und sich das Theater der Grausamkeit vom Cockpit aus betrachten. Die von der SPD werden dann den Hass abkriegen.