Sozialstaat | In Sozialdebatten wird immer hinauf die Armen geprügelt. Wieso wehrt sich niemand?

Am Morgen des 28. September 1998 fuhr ein junger Mann im Ruhrgebiet mit dem Bus zur Schule, „zu Tode betrübt und von allen Göttern verlassen“. Am Abend zuvor waren Gerhard Schröder und die SPD als strahlende Sieger aus der Bundestagswahl hervorgegangen. Der junge Mann, Protagonist in Timon Karl Kaleytas Roman Die Geschichte eines einfachen Mannes (2021), hatte auf eine weitere Amtszeit des Kanzlers von der CDU gehofft. Der Geschichtslehrer des Jungen gerät dagegen in der ersten Unterrichtsstunde des Tages außer sich vor Freude: „Sechzehn Jahre Helmut Kohl … sechzehn lange Jahre. Ein stranguliertes Land, eine gelähmte Gesellschaft, eine verkümmerte Politik … Das alles hat jetzt endlich ein Ende!“

Wäre der progressive Pädagoge heute noch immer so euphorisch ob der rot-grünen Bundesregierung? Bis zu ihrer Ablösung im Jahr 2005 durch eine Große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) setzten SPD und Grüne sozialpolitische Umbaumaßnahmen durch, die wohl keine CDU-geführte Regierung erwogen hätte – aus Angst vor dem Widerspruch der Gewerkschaften und Sozialverbände, der damals noch konfrontationsbereiten Opposition und weil der Zorn der Bevölkerung wohl organisiert worden wäre.

Was ab dem Jahr 2003 bei halbherzigem Protest der Gewerkschaften unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder kam, war die Agenda 2010. Das hieß: Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die Rückkehr des strafenden Staates beim Bezug von Sozialleistungen, eine Brutalisierung der Arbeitsbedingungen für formal Geringqualifizierte, eine noch stärkere Belastung des Faktors Arbeit und massive Steuererleichterungen für die Reichen. Die sind bis heute durch diese Politik noch reicher, die Mittelklasse dagegen ärmer und die Armen zahlreicher geworden, was wesentlich beigetragen hat zum Aufstieg der AfD.

Arbeiter wählen jetzt AfD

20,8 Prozent der Zweitstimmen erhielten die Rechtsextremen bei der Bundestagswahl 2025. Unter Menschen in schlechter finanzieller Lage stimmten sogar 39 Prozent für die AfD, unter Arbeiterinnen und Arbeitern 38 Prozent, unter Menschen mit geringer formaler Bildung 29 Prozent. 85 Prozent der AfD-Wähler gaben an, in Deutschland gehe es ungerecht zu. Dass diese Menschen ausgerechnet der kapitalistischsten aller Parteien des Deutschen Bundestags ihre Stimme gaben, weil sie den Etablierten irgendwie wehtun wollen, müsste doch etwa die SPD zum Umdenken bringen? Weit gefehlt. Die Parteistrategen zogen aus diesem Umstand einen, sagen wir: originellen Schluss. Offenbar waren sie der Meinung, man habe sich zu sehr auf Sozialleistungsbezieher fokussiert und zu wenig auf die „arbeitende Bevölkerung“.

So erscheinen die aktuellen Debatten über die Sozialpolitik als ewige Wiederkehr des Immergleichen. Da behauptet die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas: „Wir fördern Arbeit statt Arbeitslosigkeit.“ Das klingt verdächtig nach Schröders „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ aus dem Jahr 2001.

Kürzlich sagte Bas mit Bezug auf Verschärfungen der Sanktionen beim Bürgergeld: „Wer mitmacht, hat nichts zu befürchten.“ Dahinter steckt eine Vorverurteilung aller Leistungsbezieher, die der damalige SPD-Sozialminister Wolfgang Clement 2005 als „Mitnahme-Mentalität“ bezeichnete, die den „Arbeitswilligen“ schade. SPD-Chef Lars Klingbeil bemerkte neulich, seiner Partei müsse es um „die Fleißigen“ gehen, die „jeden Tag zur Arbeit gehen“, und nicht um jene, „die Geld vom Staat bekommen und nichts dafür tun“. Fast wortgleich hatte dies schon 2003 der spätere Bundesfinanzminister und mehrfache Wahlverlierer Peer Steinbrück (SPD) ausgedrückt.

Der Niedriglohnsektor macht Hunderttausende zu „Aufstockern“

Nun ist es aber so, dass es sich bei den Bürgergeldbeziehern und den „Arbeitswilligen“ oft genug um denselben Personenkreis handelt. Einerseits ist der Anteil der sogenannten Totalverweigerer unter den Bürgergeldbeziehern marginal, was angesichts der erdrückenden Datenlage inzwischen als Allgemeinwissen gelten darf. Darüber hinaus sind zahlreiche Menschen im Bürgergeldbezug nicht erwerbslos. Es sind Leute, die vom Lohn ihrer Erwerbsarbeit nicht leben können und Grundsicherungsleistungen benötigen.

Umgangssprachlich heißen erwerbstätige Leistungsberechtigte auch „Aufstocker“. Zwischen 2011 und 2017 lag die Zahl dieser Aufstocker bei über einer Million, im Jahr 2024 waren es noch immer 826.000. Damit hat sich das heutige Bürgergeld zu einer Stütze nicht etwa für „Arbeitsverweigerer“ entwickelt, sondern für den Niedriglohnsektor, der auch seit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns fortbesteht. Bas, Klingbeil und Genossen wissen das alles. Warum treten sie so leidenschaftlich nach unten?

Möglicherweise wollen sie damit den erwähnten Zusammenhang unsichtbar halten. Gelänge das nicht, dann ließe sich nicht mehr legitimieren, bei den Ärmsten derart harte Einschnitte vorzunehmen, derweil noch immer die Höhe von Einkommenssteuer und Sozialabgaben viele Normalverdiener in der Armutsgefährdung hält, viele Reiche sich weitgehend vor der Steuer drücken können, keine auch nur annähernd ausgewogene Erbschaftssteuer existiert und es seit 1996 überhaupt keine Vermögenssteuer mehr gibt.

In Deutschland herrscht keine Leistungsgerechtigkeit

Doch warum verfängt diese Strategie bei so vielen? Vielleicht hilft ein Blick auf das Phänomen der sozialen Amnesie: Die Gesellschaft ist nicht in der Lage, sich an ihre eigene Vergangenheit zu erinnern. Was nur eine Generation zurückliegt, scheint oft schon vergessen. Dass dieser Umstand auf den „Sommer der Migration“ 2015 nicht zutrifft, liegt an einer AfD, die alle anderen Parteien erfolgreich vor sich hertreibt und das Sujet so im Bewusstsein der Bevölkerung hält.

Daran, den Sozialabbau im Bewusstsein zu halten, haben die Rechten kein Interesse. Das eint sie mit den Altparteien. Dass sich kein Sozialprotest erhebt, liegt auch an einem kulturellen Gedächtnis, in das Herrschaftstechniken eingebrannt sind. Die etablierten Parteien halten kontrafaktische Missbrauchs- und Betrugsdebatten rund um den Sozialstaat in Gang, die ein Feindbild präsentieren, um soziale Kürzungen mit dem Nimbus der moralischen Unantastbarkeit auszustatten. Wer allen Ernstes meint, die BRD sei ein Land, in dem die Leistungsgerechtigkeit gelte oder zumindest gelten sollte, der hat auch weniger Probleme mit der Entrechtung derer, die als „faul“ gebrandmarkt sind.

Die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen verweist in ihrem Buch Teilen und Haben darauf, dass das Wunschverhältnis von CEO- und Azubi-Gehalt nach Meinung der breiten Bevölkerung zwischen den politischen Lagern und international erstaunlich egalitär ist. Allerdings gingen die meisten Menschen davon aus, dass die Vermögensverteilung ausgeglichener sei, als es der Fall ist. Damit erscheint im kollektiven Bewusstsein die Verteilungsfrage nicht als besonders dringlich.

Um zu verstehen, warum die Leistungsdogmen nicht infrage gestellt werden, hilft eine Beobachtung der Soziologin Nancy Fraser. In den vorangegangenen Jahrzehnten, so Fraser, habe sich in westlichen Gesellschaften im ökonomischen Register die Bedeutung des Begriffs „Abhängigkeit“ verschoben. Zwar sei im allgemeinen Sprachgebrauch noch immer von „abhängiger Erwerbsarbeit“ die Rede, doch meine dies nicht mehr den Erwerb des Lebensunterhalts unter den Bedingungen einer Machtasymmetrie zur und damit einer Abhängigkeit von der Kapitalseite. Vielmehr sei heute im Alltagsverstand verankert, dass die Erwerbsarbeit einen hohen Grad an „Unabhängigkeit“ gewähre.

Über den Sozialstaat nicht moralisch diskutieren

Dieses politische Framing bedeute, dass das Angewiesensein auf Unterstützung durch den Sozialstaat als illegitime Abhängigkeit gewertet werde. Wolle man für einen ökonomischen Wandel breite Unterstützung finden, sei es nötig, die kulturellen Interpretationen infrage zu stellen, die die ärmeren Menschen erniedrigen. Das kann und wird die SPD ebenso wenig tun wie eine der anderen (potenziellen) Regierungsparteien.

Dabei wäre es wichtiger denn je, die Sache mit dem Sozialstaat ohne Moral zu debattieren. Es spielt keine Rolle, ob ein Mensch schuld ist an seiner Armut oder nicht. Ob er arbeiten will oder nicht. Ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, schert sich nicht um solche Moralismen. Er garantiert jedem seiner Bewohner ein Leben ohne Armut. Tut er das nicht, verwirkt er sein Existenzrecht. Wer nun auf einen Umsturz hofft, sei gewarnt. Eine Abkehr vom Kapitalismus wünscht sich nur eine Minderheit.

Schon Rudi Dutschke wusste, dass in diesem Land nur rechte Minderheiten siegen können. Es bleibt also vorerst nur zu verteidigen, was die All-Parteien-Dampfwalze übrig gelassen hat von einem Sozialstaat, der im 19. Jahrhundert zur Abwehr der sozialistischen Revolution eingeführt wurde. Ein indirekter Sieg der Arbeiterbewegung. Und das ist nicht wenig.

Christian Baron war von 2018 bis 2021 Redakteur des Freitag und Mitinitiator der #unten-Kampagne 2018. Er hat drei Romane veröffentlicht, zuletzt Drei Schwestern (2025)

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Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

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