Sozialismus | Die USA, erzählt von unten

Geschichte von unten „für die da unten“ ist möglich. Dies zeigt uns Howard Zinn. Als der US-Historiker 2010 starb, konnte er auf ein großes Werk zurückblicken. Heute ist er in einem Atemzug mit den großen US-Historikern der Sozialgeschichte zu nennen: Charles und Mary Beard, Philip S. Foner, Gabriel Kolko, Richard Hofstadter, William Appleman Williams, Eric Foner.

Ja, Zinn schrieb nicht nur große geschichtswissenschaftliche Werke, sondern sogar Dramen, darunter Marx in Soho. A Play on History (1999). Schon zu Lebzeiten wurden seine Werke in „Readern“ zusammengefasst, um seine zentralen Gedanken Studierenden internationaler Universitäten und gewerkschaftlichen, antimilitaristischen, antirassistischen, feministischen Aktivisten und Aktivistinnen leichter zugänglich zu machen. Zinn gehört zu einer Gruppe von Historikern, die in den späten 1950ern und frühen 1960ern die „Geschichte von unten“ begründeten. Im selben Geist und zur selben Zeit, in der auch Studs Terkel zum Pionier der Oral History wurde. Der Geist der „history from below“ weht auch durch die heute in neuer deutscher Übersetzung vorliegende Geschichte des amerikanischen Volkes und hat umgekehrt diesen Geist in Millionen Haushalte getragen.

Die Geschichte von unten wurde „von den unten“ als ihre eigene Geschichte verstanden und begierig aufgenommen: Das Buch jedenfalls verkaufte sich weltweit mehr als zwei Millionen Mal – gigantisch für ein sozialwissenschaftliches Werk. Sein Erfolg wurde sicherlich erleichtert durch die Tatsache, dass Zinn die Perspektive, aus der er schrieb, nur zu gut aus eigener Anschauung kannte. Der am 24. August 1922 in Brooklyn geborene Zinn kam selbst von unten, aus einer jüdischen Arbeiterfamilie.

In der Arbeiterbewegung, in sozialistischen und linken Kreisen ist Zinn zum „household name“ geworden. Als ich 2006 die immens erfolgreiche US-Post-Hardcore-Band Boysetsfire vor ihrem Konzert in Schweinfurt zu ihrer sozialistischen Haltung interviewte, da sagte ihr Gitarrist Chad Istvan über deren Entwicklung: „Als ich 14 war, bekam ich von einem Freund ein Buch ‚Marxismus für Anfänger‘. Ich dachte: ‚Hier steht ja nun einmal überhaupt nichts von brutaler revolutionärer Gewalt und diktatorischer Massenunterdrückung etc. drin‘, so wie man uns das in der Schule immer vermittelt hatte. Je mehr ich mich damit auseinandersetzte, desto sympathischer fand ich den Sozialismus verglichen mit unserem System. Man fühlt sich bisweilen betrogen. Die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung, des Sozialismus in Amerika: Es wird offiziell so getan, als habe es das niemals gegeben. Deshalb ist Howard Zinns ,A People’s History of the United States‘ für uns so wichtig. Es hat uns einen radikalen Perspektivwechsel ermöglicht.“ Ganz selbstverständlich gehört Zinns populäre Geschichte der in Klassen, Patriarchat und diskriminierte „Rassen“ gespaltenen Staaten von Amerika auch zum intellektuellen Arsenal, das die kommunistische US-Rapcore-Band Rage Against the Machine auf dem Innencover ihres Albums Evil Empire abbildete. Das „böse Imperium“ ist dabei das Stichwort. Ein roter Faden durch Zinns Publikationstätigkeit ist der Antimilitarismus und die Kritik der US-Außenpolitik. Der einst von Ronald Reagan auf und gegen die Sowjetunion gemünzte Begriff beschreibt das, wogegen Zinn, angefangen mit seinem Buch Vietnam. The Logic of Withdrawal (1967) und dem – gemeinsam mit Noam Chomsky herausgegebenen – Band The Pentagon Papers. Critical Essays (1972), zeit seines Lebens opponierte: das American Empire und seine, nach seinem Dafürhalten, schlussendlich „böse“, weil imperialistische, immer wieder gegen sozialistische und andere Befreiungsbestrebungen gerichtete Außenpolitik.

Vor allem diese Haltung, das Salz, das Zinn in die Wunde der Staatsräson streute, während er die Geschichten vom Salt in the Earth aufschrieb, brachte ihm auch nach der Zeit der Kommunistenverfolgungen in den 50ern erhebliche Scherereien ein, darunter eine langjährige FBI-Überwachung. Zinns biografischen Werdegang neben seinem Hauptwerk einer neuen, jüngeren deutschsprachigen Leserschaft nahezubringen, aufzuzeigen, wie aus dem jüdischen Proletariersprössling ein gefeierter, aber von rechts auch verfemter öffentlicher Intellektueller erster Rangordnung werden konnte, ist nur eines der Verdienste der deutschen Neuausgabe, die von Norbert Finzsch, dem USA-Historiker und früheren stellvertretenden Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington, D. C., eingeleitet wird. Die Geschichte des amerikanischen Volkes beginnt Zinn, ganz konsequent, aus der Perspektive ihrer eigentlichen rechtmäßigen Bewohner, die einst über die vereiste Beringstraße von Norden nach Süden eingewandert waren: „Die Arawakmänner und -frauen, nackt, braungebrannt und voller Neugier“, kommen „aus ihren Dörfern heraus an den Inselstrand gelaufen“, um das „große Schiff“ in Augenschein zu nehmen, von dem 1492 Kolumbus vom Geschlecht der Räuber ihres menschlich-gesellschaftlichen und natürlichen Reichtums von Bord gehen wird.

Verheizt in Kriegen

Schon in den ersten Sätzen nimmt das Buch durch seine Sprache gefangen, die noch einmal, als bedürfte es hier noch weiterer Beweise, unterstreicht, dass quellennüchterne Geschichtswissenschaft und erzählerisches Talent sich nicht gegenseitig ausschließen. Die fesselnde Darstellung, das essayistische Schreiben, ist nun einmal eine Fähigkeit, die US-Sozialwissenschaftler bis heute gerade der deutschsprachigen Wissenschaft voraushaben. Es sind dabei nicht zuletzt die Quellen selbst, die, weil sie von unten geschrieben wurden oder, wie im Fall des Bartolomé de las Casas, das Entsetzen in den Augen dokumentieren, die, fremdes Leid noch fühlend, von oben auf Ausbeutung und Unterdrückung blicken, aufzeigen, dass „der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen“ vielleicht nicht ausschließlich nur „der vergangener Qual“ ist, wie Adorno befand, aber doch oft.

Zugleich wäre Zinn kein Historiker von unten, wenn er allein im postmodernen Viktimisierungs- und Selbstviktimisierungsdiskurs schriebe und nicht die Würde und kollektive Widerstandskraft der lohn-, sklaven- und unentlohnt im Haushalt arbeitenden Klassen, „Rassen“ und Geschlechter aufzeigte. Die Mächtigen sind ohne die Beherrschten ohnmächtig, sie brauchen sie mehr als umgekehrt. Das weiß Zinn, das lernt der Leser durch Zinn. Es sind die Bewegungen von unten, das zeigt er Beispiel für Beispiel und pars pro toto, von denen der Fortschritt in eine bessere Gesellschaft abhängt. Sie sind es, die wie die „Shays’ Rebellion“ verhindern wollen, dass der demokratische Moment der Revolution von 1776, als die USA sich vom Britischen Empire lossagen, nicht zur konterrevolutionären Verfassung im ausschließlichen Interesse der Besitzenden führt. Sie sind es, denen es bis 1912 fast gelingt, eine marxistisch orientierte „Socialist Party“ beinahe an die Stelle der „Democrats“ zu setzen. Sie sind es, deren Klassenkämpfe von unten die weitreichenden Reformen des „New Deal“ hervorbringen, zu denen die Einführung einer 94-prozentigen Abschöpfungssteuer für alle Einkommen über 200.000 Dollar im Jahr gehörte, aus der dann Sozialstaat, Umweltschutz und Kultur finanziert wurden. Sie tun es, wenn sie sich dagegen wehren, in Kriegen, die nicht ihren Interessen dienen, verheizt zu werden. Dadurch beenden sie Kriege, wie den in Vietnam. Und es sind sie, die, wenn sie gegen das Patriarchat revoltieren, die Möglichkeit von gleichen und freien Geschlechterbeziehungen hervorbringen.

Extreme Rechte in Europa

Zinn beendete die erste Ausgabe seines Buches im Jahr 1980. Die deutsche Ausgabe folgt selbstverständlich der letzten Aktualisierung von Zinn, der im Jahr 2003 noch den „War On/Of Terror“ behandelt – jenen Krieg, der 920.000 Menschen direkt, 3,6 bis 3,8 Millionen Menschen indirekt das Leben kostete und die Welt für immer veränderte – und zwar zum Schlechteren. Und das auch in Europa, da ohne ihn niemals der Islamische Staat entstanden, die Region niemals in einer Weise destabilisiert worden wäre, dass er im Bürgerkrieg in Syrien Fuß fassen konnte, es entsprechend auch nicht die Fluchtbewegungen auch nach Europa gegeben hätte, die selbst wiederum der Humus waren, den die extremen Rechten Europas rassistisch bestellten und zu ihrem phönixhaften Aufstieg nutzten. Heute regiert dieser Typus der Rechten die USA.

Es ist der richtige historische Moment, die Geschichte des amerikanischen Volkes neu aufzulegen, denn sie ist eine Waffe gegen linkes Ohnmachtsgefühl, Melancholie und Resignation. Denn Zinn wäre nicht Zinn, wenn er sein Werk in einer Zeit, in der es unter George W. Bush schon einmal so schien, als könne es keinen linken sozialistischen Aufschwung geben, nicht hoffnungsvoll beenden würde. Für Eric Hobsbawm, den britischen Historiker einer vierbändigen Geschichte des „Welt-Volkes“, war 1994 die „Alternative zu einer veränderten Gesellschaft“ die „Finsternis“; Zinn aber vertraute bis zuletzt auf das amerikanische Volk, diese zu verhindern, sein Buch beschließend mit den „Worten des Dichters Shelley“: „Erhebt euch wie Löwen nach dem Schlaf / in unbezwingbarer Zahl – / Schüttelt eure Ketten ab wie Tau, / Der auf euch Schlafende gefallen war – / Ihr seid viele – sie sind wenige.“

Eine Geschichte des amerikanisches Volkes Howard Zinn Sonja Bonin (Übers.), März Verlag, 927 S., 48 €

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