Der Ökonom Georg Cremer ist ehemaliger Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes und lehrt als außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.
Auf den ersten Blick ist die von Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil verkündete Nullrunde beim Bürgergeld eine harte Maßnahme. Das
Bürgergeld für einen Alleinstehenden soll nicht erhöht werden und auch im
nächsten Jahr 563 Euro pro Monat betragen (die Kosten für Miete
und Heizung werden nach Einzelfall erstattet). Auch wenn die Inflation zuletzt auf
weniger als zwei Prozent gesunken ist: Wer von Bürgergeld lebt, spürt jeden
Kaufkraftverlust. Wenn Heil eine Inflationsanpassung um zwei Prozent machen würde, stiege das Bürgergeld um elf Euro im Monat.
Soll angesichts klammer Kassen mal
wieder an den Ärmsten gespart werden? Nein, Heil wendet einen
Anpassungsmechanismus an, der gesetzlich festgelegt ist und der mit der
Bürgergeldreform deutlich verbessert wurde.
Keine willkürliche Festsetzung
Es hilft dabei, einmal in die Abgründe der Berechnungsmethoden abzusteigen: Das Bürgergeld wird alle fünf Jahre in einem aufwendigen
Statistikverfahren neu berechnet. Grundlage dafür ist eine Sonderauswertung der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, an der fast 60.000 Haushalte teilnehmen und bei der diese über drei
Monate lang detailliert ihre Ausgaben auflisten. Das Bürgergeld wird also nicht willkürlich
festgesetzt, sondern orientiert sich am Ausgabenverhalten der Haushalte mit
niedrigem Einkommen, die etwas mehr haben als die Transferbezieher. Aufgrund
der Datenerhebung weiß man recht genau, was sie für Lebensmittel, Kleidung und
andere Güter des täglichen Bedarfs ausgeben.
Die Regierung kann das Bürgergeld auch nicht einfach nach
Kassenlage absenken, wie immer wieder markig gefordert wird, um den Lohnabstand
zum Niedriglohnsektor zu erhöhen. Das Bürgergeld – wie auch die in gleicher
Höhe festgesetzte Grundsicherung im Alter – muss jedem Hilfebedürftigen
diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichern, „die für seine physische
Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen
und politischen Leben unerlässlich sind“. So hat das
Bundesverfassungsgericht 2010 in einem bahnbrechenden Urteil entschieden. Dennoch
hat der Gesetzgeber einen breiten Ermessensspielraum. Er – und nicht das Gericht
in Karlsruhe – legt die Höhe der Grundsicherung fest.
Wenn nur alle fünf Jahre eine Neuberechnung erfolgt –
häufiger wird die aufwendige Datenerhebung nicht durchgeführt –, muss es eine
regelmäßige Anpassung an die Preisentwicklung geben. Und genau darum dreht sich der aktuelle Streit. Bis zur Bürgergeldreform erfolgte die Anpassung mit deutlicher Verzögerung, immer zum Beginn eines neuen Jahres. Maßgeblich war der
Preisanstieg von Jahresmitte zu Jahresmitte der beiden Jahre, bevor die
Erhöhung in Kraft trat.
Neuer Anpassungsmechanismus
Solange die Inflationsrate niedrig war, war diese Verzögerung kein großes Problem. Doch dann kam der Angriff Russlands auf die Ukraine – und die Inflationsrate stieg rasant an. Die Ampelregierung hat sofort gehandelt und zusammen mit
der Bürgergeldreform den Inflationsausgleich deutlich verbessert. Zusätzlich zu
der üblichen Basisanpassung wird nun die zeitnahe Preisentwicklung auch beachtet. Und das hat spürbare Folgen: Nach dem alten Mechanismus hätte es 2023 nur eine
Erhöhung um 4,54 Prozent gegeben, mit dem neuen Mechanismus waren es dagegen
11,75 Prozent (PDF).
Anfang dieses Jahres erfolgte dann abermals eine Erhöhung des Bürgergelds um 12,2
Prozent.
Keine Frage: Der neue Anpassungsmechanismus kann auch über
das Ziel hinausschießen, weil man nicht weiß, ob die aktuelle Preisentwicklung
dauerhaft Bestand hat. Um dies auszugleichen, kann es, wie jetzt, auch eine
Nullrunde geben (eine Absenkung ist gesetzlich ausgeschlossen). Ein Skandal ist
das nicht.
Nun behaupten die Sozialverbände, die die Nullrunde scharf
kritisieren, auch gar nicht, die Bundesregierung rechne falsch. Sie
wenden ein, die Höhe der Hilfe sei einfach zu niedrig (PDF). Damit hinterfragen sie aber, ob das Verfahren zur Berechnung
der Regelsätze (PDF),
das sogenannte Statistikmodell, überhaupt fair ist. Auch dieses kommt nicht
ohne politische Vorgaben und normative Setzungen aus. Nicht alle Ausgaben der
Haushalte mit niedrigem Einkommen werden berücksichtigt, ein Teil der Ausgaben
wird als „nicht existenznotwendig“ ausgeklammert.
Dazu ein paar Details: Außen vor bleiben etwa Ausgaben für Tabak und alkoholische
Getränke, schließlich sind gesundheitsgefährdende Genussmittel nicht
existenznotwendig. Statt der Ausgaben für Bier und Wein werden die Kosten für
die gleiche Menge Mineralwasser angesetzt. Von der Logik des Existenzsicherungssystems her
kann man das nicht kritisieren, aber ein wenig
lebensfremd ist es dennoch. Viele Transferempfänger rauchen, und diejenigen,
die nicht rauchen, hatten, solange Tabak noch berücksichtigt wurde, einen
Puffer für andere Ausgaben. Außen vor bleiben auch die Kosten für ein Auto oder Haustiere. Wer einen Hund hat, muss das
Futter an anderer Stelle in seinem knapp bemessenen Budget einsparen. Über die
genaue Höhe des Bürgergelds kann man also legitimerweise streiten.
Würde die Bundesregierung allerdings das Bürgergeld und die
Grundsicherung im Alter erhöhen – so will der Paritätische Gesamtverband eine
Erhöhung von 563 Euro auf 813 Euro (PDF), also um 44 Prozent –, gäbe es ein anderes wichtiges Problem: Wie lässt sich der Abstand zu den Einkommen von
Erwerbstätigen im unteren Lohnsegment so sichern, dass er von diesen als fair empfunden werden kann?
Hilfebezug und Armut sind nicht das Gleiche
Auch stiege die Zahl der Transferempfänger deutlich: Mehr
Erwerbstätige mit niedrigen Einkommen erhielten ergänzendes Bürgergeld oder
Kinderzuschlag, mehr Rentner mit geringen Renten ergänzende Grundsicherung im
Alter. Wenn dies als Ausdruck eines leistungsfähigen Sozialstaats
anerkannt würde, wäre es ja schön und gut. Man darf aber Zweifel haben, ob alle
Sozialverbände der Versuchung widerstehen, den Anstieg der Zahl der
Hilfeempfänger dann wieder als Ausdruck einer wachsenden sozialen Schieflage zu
skandalisieren. Schließlich gehört es zu den Absurditäten der deutschen
Sozialdebatte, Hilfebezug und Armut schlicht gleichzusetzen. Wenn der Staat
seine Hilfen ausbaut, scheint die Armut zuzunehmen. Zuletzt konnte man das
wieder beobachten, als sich die Hilfen für ukrainische Flüchtlinge im
Rentenalter, wenig überraschend, in den Daten der Grundsicherung im Alter
niederschlugen.
So wichtig es ist, die Kaufkraft des
Bürgergelds zu sichern: Es gibt andere dringende Fragen, die in der Debatte
nicht untergehen sollten. Ein großer sozialpolitischer Fortschritt wäre es, wenn
alle, die einen Anspruch auf Hilfe haben, diese Hilfe auch erhielten. Gerade viele Menschen
mit geringen Renten beantragen keine Grundsicherung im Alter.
Einer groben
Abschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge lassen sie im Schnitt 200
Euro pro Monat liegen. Das ist viel Geld für alle, die mit Einkünften in der Nähe des
Sozialhilfesatzes leben. Wer vom Hilfesystem nicht erreicht wird, dem nützt
weder eine Regelsatzerhöhung noch eine großzügigere Inflationsanpassung. Auch die
stark gestiegenen Heizkosten – eigentlich im Grundsicherungssystem gut geregelt
– muss er alleine stemmen. Der Kampf gegen verdeckte Armut muss auf der
politischen Agenda bleiben.