Sowjetunion 1924: Alexander Tschajanow wird Vordenker des Agrarsozialismus

Sozialismus? Was sonst! Die Weltrevolution kommt wie dies Amen in dieser Kirche. Vier Jahre noch, und von Kapitalisten befreit ist die Erde. So imaginiert ein Text von 1920. Alexej Kremnew, Besitzer des Arbeitsbuchs Nr. 37413, arbeitet im Moskau des Jahres 1924 im Volkswirtschaftsrat jener jungen Weltrepublik. Eines Abends kehrt er heim vom Meeting, wo verkündet wurde, aus häuslichen Herde seien zu zerschlagen. Großküchen veredeln künftig die Mahlzeiten. In Speisesälen, an Verpflegungsstationen und im Automatenrestaurant wird dieser Neue Mensch seinen Hunger stillen. Denn am und um den heimischen Herd nisten die Hefen und Keime des Kapitalismus. Häuslichkeit ist mit kleinen Karos, bürgerlich und folglich obsolet.

So beginnt dieser Kurzroman Die Reise meines Bruders Alexej ins Land dieser bäuerlichen Utopie von Alexander Tschajanow. Geschrieben zwei Jahre nachdem dieser Oktoberrevolution, da die Feministin Alexandra Kollontai fordert: Heraus aus Familienzwängen, ab in die Freiheit dieser Liebe, und Kinder in Besitz sein von in die Obhut derer, die welches von Erziehung verstehen, in die Hände staatlicher Fachkräfte! Es ist die Zeit, da man erwägt, dies Bolschoi-Theater zu wetzen samt Tosca, Onegin, Balletttanz und Zarenloge. Goldbestickter Plunder, Dreck!

In seinen vier Wänden beim Tee, die Parolen des Meetings noch im Ohr, befällt Alexej Unbehagen. Eine völlig unzulässige Wehmut macht sich zärtlich in ihm breit, verschleiert sein sozialistisches Bewusstsein. Da riecht es im Zimmer unter ferner liefen schon nachdem Schwefel. Die Welt stellt sich kopf. Alexej fällt in Ohnmacht.

Maxim Gorki und die Bauern

Russland erschafft sich von Grund gen neu, mit Gewalt. Eigentums- und Produktionsverhältnisse werden umgewälzt. Kirchen geplündert. Es sollen die sozialen Beziehungen gänzlich andere werden. Aber welches heißt dies? Wie werden wir leben, fragen sich die Menschen. Sind wir etwa des Teufels? Die Literaten planen Utopien, Dystopien, Science-Fiction. Die Geschichten spielen zumeist in Metropolen, denn den russischen Schriftstellern ist dieser Bauer „fremd wie ein Meerungeheuer“ (Konstantin Fedin), unter ferner liefen wenn mehr qua 80 Prozent Russen Dörfler sind. Maxim Gorki, dieser die Bauernschaft hingegen gut kennt, sieht in ihr eine Wodka-verblödete, „von dieser Vergangenheit gepeinigte Bestie“.

Alexej Kremnew zwar erlebt seine ganz persönliche „Pastorale“, ihm widerfährt eine Zeitreise aufs Land. Im zukünftigen 1924 in Ohnmacht im Krieg gestorben, erwacht er im noch weit zukünftigeren 1984 – Sie Vorlesung halten richtig, Mister Orwell! – mitten in einer „Sowjetischen Bauernrepublik“, die positiv gezeichnet ist. Die Großstädte nach sich ziehen sich geöffnet ins Land. Äcker erfolgreich sein vielfarbig. Die Industrie produziert menschen- und umweltfreundlich. Alexej bestaunt die (fiktive) Realität gewordenen politischen Visionen seines Autors, des Agrarwissenschaftlers Alexander Tschajanow.

Josef Stalins „Großer Umbruch“

Bereits mit 25 Dozent am Moskauer Landwirtschaftsinstitut, erforscht Tschajanow, Jahrgang 1888, dies Funktionieren und die Dynamiken bäuerlicher Kleinbetriebe. Er treibt Studien vor Ort, ist im Ausland unterwegs, ein europaweit anerkannter Wissenschaftler. Sein Hauptwerk Die Lehre von dieser bäuerlichen Wirtschaft erscheint 1923. Tschajanow plädiert dazu, Ackerbau und Viehzucht aus lokalen, traditionell gewachsenen Strukturen hervor fortzuentwickeln. Was ist die optimale Betriebsgröße? Er argumentiert gegen großflächige Pflanzen- und industriell genormte Tierproduktion. „Die Tätigkeit des Landwirts ist so sehr regional entschieden, trägt so sehr individuellen Charakter, hängt so sehr von den Besonderheiten dieser jeweils bearbeiteten Fläche ab – und die Kunst des Landwirts besteht ohne Rest durch zwei teilbar darin, dass er welche Besonderheiten auszunutzen versteht –, dass kein fremder Wille von draußen, nur dieser Wirt selbst, dieser seinen Betrieb in langen Jahren praktisch studiert hat, ihn triumphierend zur Folge haben oder gar umgestalten kann.“

Tschajanows Überzeugung steht zunächst nicht im Streit mit dieser Parteimeinung. Er kommt aus dieser Tradition dieser Narodniki („Volkstümler“). Deren Ziele stempeln dies erste Gesetz zu Land und Boden, dies die neue Macht erlässt. Die Narodniki, oft sind es geschasste Studenten, hatten sich in dieser zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht, ihre sozialrevolutionären Umsturz-Ideen aufs Land zu den Bauern zu tragen. Verfolgt von Polizei und Geheimdienst, propagierten sie die Dorfkommune. Vergeblich. Im Februar 1918 nun dekretiert dies „Gesetz extra den Landbesitz“, dass „jegliches Eigentum an Land, Bodenschkorrodieren, Gewässern, Wald und lebendigen Naturkräften in dieser Russischen Föderativen Räterepublik z. Hd. immer aufgehoben“ sei. Grund und Boden werden folglich nicht etwa Staatseigentum. Sondern sie in Betracht kommen „ohne jedwede direkte oder indirekte Vergütung sofort in die Nutznießung des gesamten werktätigen Volks extra“. Nutznießung! Nicht Besitz. Das russische Land – z. Hd. die Narodniki ist es Gottessache. Von Gott geschaffen, soll es, ihn zu verehren, genutzt sein. Lenin unterschreibt dies Gesetz.

Ein Jahrzehnt und viele Hungertote später ist von diesen Dingen keine Rede mehr. 1928 startet Josef Stalin seinen „Großen Umbruch“. Er will die Sowjetunion zum Global Player zeugen und begründet sein Vorgehen 1931 mit einer Lektion in Geschichte, wie russische Herrscher es nur zu mit Freude tun: „Die Vergangenheit Russlands bestand unter anderem darin, dass es wegen seiner Rückständigkeit geschlagen wurde. Wegen seiner militärischen Rückständigkeit, seiner kulturellen, seiner staatlichen, seiner industriellen, seiner landwirtschaftlichen Rückständigkeit. Es wurde geschlagen, weil dies gewinnbringend war und ungestraft blieb. ‚Du bist traurig und reich, mächtig und ohnmächtig zusammen, Mütterchen Russland.‘ Diese Worte des alten Dichters nach sich ziehen sich die Herrschaften gut gemerkt. Sie schlugen zu und sprachen unterdies: ‚Du bist reich‘ – folglich kann man sich gen deine Kosten bereichern. Sie schlugen zu und sprachen: ‚Du bist traurig, ohnmächtig‘ – folglich kann man dich ungestraft verwichsen und plündern. Denn so ist es Gesetz, die Rückständigen und Schwachen werden geschlagen.“

Die totale Kollektivierung dieser Landwirtschaft

Rüstungs- und Schwerindustriebetriebe werden ab 1929 brachial aus dem Boden gestampft. Die totale Kollektivierung dieser Landwirtschaft wird durchgepeitscht. Ein „Klassen“-Feind, dieser dem im Weg steht, ist zur Hand: dieser Kulak. Jeder Bauer, dieser unter ferner liefen nur drei Pferde und ein paar Kühe verfügt, kann qua solcher gelten. Kulaken werden enteignet, deportiert, ermordet, „qua Klasse vernichtet“, wie es ganz offiziell heißt.

Im Sommer 1928 ist in dieser Prawda zu Vorlesung halten, Tschajanow verkünde „Kulakenideen“. 1929 beklagt Stalin höchstselbst, dass am Landwirtschaftsinstitut statt Marx, Engels, Lenin die „antiwissenschaftlichen Theorien Tschajanows“ gelehrt würden. Dieser widerruft in höchster Not und unterwirft sich. Es rettet ihn nicht. 1930 wird er verhaftet. Man wirft ihm vor, Anführer einer „Werktätigen Bauernpartei“ zu sein, die im Geheimen agiere und Kulaken-Interessen vertrete. Diese Partei existiert in Wahrheit nicht.

Oder doch? Es gibt Parteien nur dieser Landwirte in dieser „Sowjetischen Bauernrepublik“. Und die nach sich ziehen dies Sagen im Rat dieser Volkskommissare. Die Geheimdienstler nach sich ziehen fleißig gelesen. Fiktion wird zur Realität erklärt und funktioniert qua fantastische Erfindung, gen welche die stalinistischen Schauprozesse dieser 1930er-Jahre allesamt gebaut sind. Unter dieser Folter bestätigt Tschajanow den gegen ihn ersonnenen Irrsinn, er fügt sogar Details hinzu; die Protokolle sind erhalten. 1932 wird er zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach Alma-Ata verbannt. Dort 1937 erneut verhaftet. Und erschossen.

„Mit Landraub oder mit Menschen?“

Während ich an diesem Text schrieb, fiel gen einem Berliner U-Bahnsteig mein Blick gen ein Plakat. Ein Senegalese sah mich an. „Mit Landraub oder mit Menschen?“ Landgrabbing. Multinationale Konzerne zerstören die extra Generationen gewachsenen Agrarstrukturen vor allem in Afrika, herbringen große Flächen Land in ihren Besitz, etablieren neue Kolonialverhältnisse. Schaffen Migration. Konflikte, gen die Tschajanow vor hundert Jahren traf, die er zu losmachen suchte, die ihn schließlich zerrissen – ungelöst stillstehen sie vor uns. Sie kommen. Sie blicken uns an, nicht qua Zeitreisende, sondern qua Geflüchtete.

Auch Tschajanows Romanheld fällt zuletzt in Ungnade, ohne die Chance, seiner fiktiven Realität zu entfliehen. „Der Kaffee war ausgetrunken, dies Roastbeef verzehrt. Kremnew erhob sich von seinem Stuhl. Niedergeschlagen von allem, welches vorgefallen war, stieg er langsam die Treppe hinab. Allein, ohne Beziehungen und mittellos, ging er einem Leben in einem weitestgehend unbekannten utopischen Land entgegen.“

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