„Sonny Boy“ von Al Pacino: Der Meister dieser Verlierer

Jedes
Leben ist interessant, soviel ist sicher. Oder wenigstens ist jede Erzählung
eines Lebens interessant, weil das Langweilige weggelassen und das Dramatische
noch dramatischer gemacht werden kann. Besonders interessant sind die Lebenserzählungen
von Künstlerinnen und Künstlern, vor allem die von Schauspielerinnen und
Schauspielern, weil man dann etwas hat, worin man Spuren suchen kann. Die
Spuren der Kunst im Leben, und vor allem die Spuren des Lebens in der Kunst.

Im
Kino, mehr als im Theater, schimmert durch die Rollen eines Schauspielers immer
auch dessen eigenes Wesen und dessen eigene Biographie. Die großen Schauspieler
spielen nicht jemanden, sie holen einen Charakter, der in ihnen steckt, aus
Selbsterfahrung und Erlebnishunger, aus sich heraus. So ähnlich erklärt es Al Pacino, mittlerweile 84 Jahre alt, in seiner Autobiografie Sonny Boy, die von beidem etwas hat, von einer
Selberlebensbeschreibung und von einer Darstellung dessen, was Schauspielerei
eigentlich ist. So viel vorweg: Pacino scheut sich nicht, hier und da den
Schleier der Mythen zu lüften. 

Es gibt sehr viele ganz normale Dinge im Leben
und Werk eines Hollywoodstars, von alkoholbedingtem Kontrollverlust über
schlechte Finanzplanung bis zu zerbrochenen Beziehungen, und manchmal erkennt
auch einer wie Pacino erst später, dass eine Filmrolle vor allem der Bewältigung
eines persönlichen Konflikts oder der Verarbeitung einer Niederlage diente. Und
dass Filme, selbst wenn sie gut gedacht und gemacht sind, nichts taugen, wenn
Schauspielerinnen und Schauspieler nicht mit ihrem ganzen Leben und ihrem
ganzen Wesen dabei sind.

Wenn
Al Pacino mit den Geschichten aus seiner Kindheit in New York City beginnt, mit der frühen
Scheidung seiner jungen Eltern, der Zeit bei der engelhaften Großmutter, der
Einsamkeit, dem unsicheren Ghetto der Bronx, dem Suizidversuch der Mutter
und nicht zuletzt vom Kino (wie bei Tarantino, wie bei Spielberg: ein
Initiationsraum, eine zweite Geburt und ein Ort, an dem es mehr Familie zu
geben schien als im gewöhnlichen Zuhause), dann hat man auch gleich etliche
seiner Filmrollen im Sinn, in denen er dieser unruhige, unbehauste Großstadtmensch ist: immer
kurz vor einem Gewaltausbruch, immer mit einer unstillbaren Sehnsucht nach
etwas Verlorenem, etwas nie Gehabtem, und immer mit einem sarkastischen Spruch
auf den Lippen, die Maskeraden der bürgerlichen Welt um ihn herum betreffend.
Der blitzrasche Wechsel zwischen treuherziger Näher und eiskaltem Zorn. Wenn Al
Pacino auf der Leinwand erscheint, liegt immer Gefahr in der Luft. Gefahr, die
von ihm ausgeht, und Gefahr, die in ihn hineinfährt.

Und
die Wurzeln der Familie: Der Vater seiner Mutter, der aus einem sizilianischen
Ort stammt, der tatsächlich Corleone heißt, und eine wilde Jugend „wie aus einem
Dickens-Roman“, frühe Begegnung mit Gewalt, Drogen und Korruption, aus denen er
wohl, anders als etliche seiner Kumpane, nur mit der Hilfe seiner Familie mehr
oder weniger heil herauskam. Der Großvater brachte ihm bei, nicht zu petzen,
und die Großmutter war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Schon früh, aber
nicht unproblematisch – eher dramatisch als gefällig – entdeckt er die Passion
fürs Schauspielen – spielt die Szene nach, in der Ray Milland in Billy Wilders Das verlorene Wochenende verzweifelt nach der Schnapsflasche sucht, die er selbst vor sich
versteckt hat.

Das Ghetto kriegst du nicht aus dir raus

Für
so viele Momente in seinen Filmen gibt es da Vor-Bilder aus dem eigenen Leben: die Abschiedsszene aus Hundstage (1975), die Verletzung des Penis durch einen
Unfall, die immer mal wieder als Impotenztrauma wiederkehrt, wie etwa noch in Stand
Up Guys
(2012), das Zusammenstehen der Gang und das Outlaw-Leben: „Unser Zeitvertreib
bestand darin, Dummheiten anzustellen und vor Autoritätspersonen zu flüchten.“
Sogar in City Hall (1996), einem der erstaunlich zahlreichen Filme mit Al Pacino,
die sich um Macht, Politik und Korruption drehen, gibt es einen Bezug zu
Kindertagen, die Freundschaft mit Kenny Lipper, der später Vizebürgermeister
von New York unter Ed Koch werden sollte. So sieht es aus im amerikanischen
Traum für Leute aus einem Block: Der eine landet mit einer Nadel im Arm in der
Gosse, der andere wird Aushilfskellner, noch einer Vizebürgermeister. Und einer
wird Hollywoodstar. Aber wie es so heißt: Du kannst raus aus dem Ghetto, aber
das Ghetto kriegst du nicht aus dir raus.

Al Pacino ist der Meister der
Verlierer. „Mein Großvater hielt immer zu den Außenseitern, und das scheint
auch mein Credo zu sein“, schreibt er in Sonny Boy. „Ich drücke immer den Unterlegenen die Daumen, bis sie
anfangen zu gewinnen, und dann sage ich mir: O Mann, zu denen halte ich nicht
mehr.“ So einer ist Al Pacino auf der Leinwand, ein Kerl, dem wir beim
Verlieren zuschauen wollen. Beim schönen Verlieren. Wenn er verliert, hat er
unsere volle Sympathie, mehr als das, und wenn er gewinnt, verwandelt er sich
in ein Monster: Scarface (1983), diese Film-Oper der Gewalt von Brian de Palma, in
der alles noch einmal verdichtet ist, von der Realität des (Einwanderer-)Gangsters in die Hyperrealität der amerikanischen Mythologie. Der Verlust geht
in Pacinos Leben weiter; die engsten Freunde aus der Teenager-Gang der Bronx
starben an der Droge, nicht wenige Kolleginnen und Kollegen aus der Branche
auch, und während er in der großen Zeit von Greenwich Village mit dem Living
Theatre auf den Straßen unterwegs ist, stirbt die Mutter, „an Pillen oder an
Armut“. Al Pacino ist selber einer, der Geld nie so richtig verstanden hat.
Irgendwann wird er im neuen Hollywood gut verdienen – und genauso schnell auch
wieder pleitegehen.

Zur
Schauspielerei jedenfalls kam er mit der Hilfe einer rothaarigen Lehrerin
und der Schultheatergruppe. Eine Aufführung von Tschechows Die Möwe in einem
Kinopalast und vor sehr wenigen Zuschauern bringt die Faszination für das
Theater zum Entschluss, die Bühne als Raum des eigenen Lebens zu nutzen. „Tschechow
wurde mir zum Freund“; so las er alle Tschechow-Stücke in früher Zeit, und
vielleicht lernte Al Pacino hier die Kunst des Verhaltenen. Shakespeare war die
zweite Bezugsgröße
, eine persönlich glückliche, beruflich aber gelegentlich
desaströse Beziehung. Nicht vom Romeo oder vom Hamlet, sondern von Richard III.
geht der Weg zum Wunsch nach einer letzten großen Rolle, von dem wir am Ende
des Buches erfahren: King Lear. Nebenbei gibt es die Anregung, über den
Unterschied zwischen britischer und US-amerikanischer Shakespeare-Interpretation
nachzudenken.

Für
Al Pacino hat es jedenfalls wohl nie eine Alternative zur Schauspielerei
gegeben. Vorbild aber sind nicht bloß die großen Stars der Hollywood-Moderne
von James Dean zu Marlon Brando, sondern auch eine Familie von Drahtseilartisten,
die nach einem verheerenden Absturz doch wieder in die Höhe steigt. Pacino schreibt: „Wenn ich
arbeite, stehe ich auf dem Spiel. Wenn ich alles gebe. Ich will etwas riskieren.
Ich will fliegen und abstürzen. Ich will mich an irgendwas stoßen, denn dann
weiß ich, dass ich am Leben bin. Es hat mich am Leben gehalten. Wenn ich Jahre
später hin und wieder von aufstrebenden Schauspielern gefragt werde: ‚Warum
haben Sie es geschafft und ich nicht? Ich wollte es doch so sehr.‘ Dann sagte
ich zu ihnen: ‚Sie wollen es – ich musste es.'“

Jedes
Leben ist interessant, soviel ist sicher. Oder wenigstens ist jede Erzählung
eines Lebens interessant, weil das Langweilige weggelassen und das Dramatische
noch dramatischer gemacht werden kann. Besonders interessant sind die Lebenserzählungen
von Künstlerinnen und Künstlern, vor allem die von Schauspielerinnen und
Schauspielern, weil man dann etwas hat, worin man Spuren suchen kann. Die
Spuren der Kunst im Leben, und vor allem die Spuren des Lebens in der Kunst.

Im
Kino, mehr als im Theater, schimmert durch die Rollen eines Schauspielers immer
auch dessen eigenes Wesen und dessen eigene Biographie. Die großen Schauspieler
spielen nicht jemanden, sie holen einen Charakter, der in ihnen steckt, aus
Selbsterfahrung und Erlebnishunger, aus sich heraus. So ähnlich erklärt es Al Pacino, mittlerweile 84 Jahre alt, in seiner Autobiografie Sonny Boy, die von beidem etwas hat, von einer
Selberlebensbeschreibung und von einer Darstellung dessen, was Schauspielerei
eigentlich ist. So viel vorweg: Pacino scheut sich nicht, hier und da den
Schleier der Mythen zu lüften. 

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