Sokrates sah’s kommen: Künstliche Intelligenz macht unklug! Aber wie schützen wir uns davor?

Betritt man das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, fühlt sich die Zukunft plötzlich ganz nah an. In gläsernen Vitrinen stehen Prototypen seltsamer und faszinierender Erfindungen – von winzigen Schreibtischrobotern bis hin zu einer surrealistischen Skulptur, die von einer KI entworfen wurde, der man den Auftrag gab, ein Teeservice aus Körperteilen zu gestalten.

In der Eingangshalle erklärt „Oscar“, ein KI-gestützter Müllsortier-Assistent, wo man den benutzten Kaffeebecher entsorgen soll. Fünf Stockwerke höher arbeitet die Forschungswissenschaftlerin Nataliya Kosmyna an tragbaren Gehirn-Computer-Schnittstellen. Ihr Ziel: Menschen, die aufgrund neurodegenerativer Erkrankungen wie der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) nicht mehr sprechen können, eines Tages ermöglichen, allein mit Gedanken zu kommunizieren.

Kosmyna verbringt viel Zeit damit, die Gehirnaktivitäten von Menschen zu lesen und zu analysieren. Ein weiteres Projekt, an dem sie arbeitet, ist ein tragbares Gerät – ein Prototyp sieht aus wie eine Brille –, das erkennen kann, wenn jemand verwirrt ist oder die Konzentration verliert. Vor etwa zwei Jahren begann sie, unerwartete E-Mails von Fremden zu erhalten. Sie berichteten, dass sie große Sprachmodelle wie ChatGPT nutzen – und seither das Gefühl hätten, ihr Gehirn habe sich verändert. Ihr Gedächtnis sei schlechter geworden, schrieben sie – könne das überhaupt sein?

Hirnscans zeigen, was ChatGPT in unseren Köpfen anrichtet

Auch Kosmyna selbst fiel auf, wie schnell sich die Menschen bereits auf KI verlassen. Sie sah Kolleginnen und Kollegen, die ChatGPT bei der Arbeit nutzten. Und auch die Bewerbungen, die sie von Forschenden erhielt, die in ihrem Team arbeiten wollten, sahen plötzlich anders aus: länger, formeller – und manchmal bemerkte sie in Zoom-Gesprächen, dass Bewerber kurz zögerten, bevor sie antworteten, und dabei zur Seite blickten. Holten sie sich in dem Moment vielleicht Hilfe von einer KI, fragte sie sich. Und wenn ja: Wie gut verstanden sie dann überhaupt die Antworten, die sie gaben?

Gemeinsam mit einigen Kolleginnen und Kollegen vom MIT führte Kosmyna ein Experiment durch, bei dem die Gehirnaktivität von Personen mit einem EEG (Elektroenzephalogramm) gemessen wurde, während sie Aufsätze schrieben – entweder ohne digitale Hilfe, mithilfe einer Internetsuchmaschine oder mit ChatGPT. Das Ergebnis: Je mehr externe Unterstützung die Teilnehmenden nutzten, desto geringer war die Vernetzung ihrer Gehirnaktivität. Besonders diejenigen, die ChatGPT beim Schreiben einsetzten, zeigten deutlich weniger Aktivität in den Bereichen des Gehirns, die mit Denken, Aufmerksamkeit und Kreativität zu tun haben.

Mit anderen Worten: Egal, was die Menschen subjektiv beim Schreiben mit ChatGPT empfanden – die Hirnscans zeigten, dass dort oben nicht besonders viel los war.

Wie Nataliya Kosmyna versehentlich eine weltweite Medienwelle auslöste

Die Teilnehmenden – Studierende des MIT und benachbarter Universitäten – wurden direkt nach Abgabe ihrer Texte gefragt, was sie geschrieben hatten. „Kaum jemand aus der ChatGPT-Gruppe konnte auch nur einen Satz wiedergeben“, sagt Kosmyna. „Das war beunruhigend – du hast es gerade geschrieben, und du erinnerst dich an nichts davon.“

Kosmyna ist 35 Jahre alt, trägt ein modisches blaues Hemdblusenkleid und eine auffällige, bunte Halskette. Sie spricht schneller, als viele denken können. Sie betont, dass das Schreiben eines Aufsatzes wichtige Fähigkeiten trainiert: Informationen zusammenzuführen, verschiedene Perspektiven abzuwägen und ein Argument aufzubauen. Diese Kompetenzen brauche man auch im Alltag. Spöttisch fragt sie:

Wie willst du sonst ein Gespräch führen? Sagst du dann: ‚Ähm … darf ich kurz aufs Handy schauen?‘

Nataliya Kosmyna

Das Experiment war klein – mit nur 54 Teilnehmenden – und noch nicht begutachtet („peer reviewed“). Als Kosmyna die Ergebnisse im Juni online stellte, dachte sie nur, andere Forschende könnten das interessant finden. Doch kurz darauf löste sie – völlig unvorbereitet – eine weltweite Medienwelle aus.

Neben zahlreichen Anfragen von Journalistinnen und Journalisten erhielt sie über 4.000 E-Mails aus aller Welt – viele von überforderten Lehrerinnen und Lehrern, die sich sorgen, dass ihre Schülerinnen und Schüler nicht mehr richtig lernen, weil sie ChatGPT für die Hausaufgaben benutzen. Die Angst: KI schafft eine Generation, die zwar ordentliche Texte produziert, aber kein echtes Wissen oder Verständnis mehr hat.

Das Grundproblem, sagt Kosmyna, sei ein evolutionäres: Sobald eine Technologie unser Leben erleichtert, nutzen wir sie automatisch. „Unser Gehirn liebt Abkürzungen – das liegt in unserer Natur. Aber um zu lernen, braucht das Gehirn Widerstand. Es braucht eine Herausforderung.“

Es gibt alarmierende Hinweise, dass uns der digitale Konsum teuer zu stehen kommt

Wenn das Gehirn also Reibung braucht, sie aber gleichzeitig meidet, wird deutlich, wie widersprüchlich das Versprechen der modernen Technologie ist: Sie will uns ein „reibungsloses Nutzererlebnis“ bieten – ein Leben, in dem alles mühelos funktioniert, von App zu App, von Bildschirm zu Bildschirm. Genau dieses Reibungslose führt dazu, dass wir immer mehr Denken und Wissen an digitale Geräte auslagern: Es erklärt, warum man so leicht in endlosen Internetschleifen landet – und so schwer wieder herausfindet. Und warum KI sich so schnell und selbstverständlich in unser Leben eingefügt hat.

Wir wissen aus Erfahrung: Wer sich an die hyper-effiziente Onlinewelt gewöhnt, empfindet die analoge Welt voller Widerstände als anstrengend. Also meidet man Telefonate, nutzt Selbstbedienungskassen, bestellt alles über Apps. Man greift zum Handy, um eine einfache Rechenaufgabe zu lösen, überprüft Fakten, statt sich zu erinnern, tippt das Ziel in Google Maps und lässt sich auf Autopilot leiten. Vielleicht hört man sogar auf, Bücher zu lesen, weil das Durchhalten von Konzentration sich nach zu viel Reibung anfühlt – und träumt stattdessen von einem selbstfahrenden Auto.

Ist das vielleicht der Beginn dessen, was die Autorin und Bildungsexpertin Daisy Christodoulou eine „stupidogene Gesellschaft“ nennt – also eine Gesellschaft, die es leicht macht, dumm zu werden, weil Maschinen das Denken für uns übernehmen? Menschliche Intelligenz ist zu vielfältig, um sie auf Begriffe wie „dumm“ zu reduzieren – aber es gibt alarmierende Hinweise darauf, dass uns all der digitale Komfort teuer zu stehen kommt.

Warum sinken in vielen Industrieländern die IQ-Werte?

In den wirtschaftlich entwickelten Ländern der OECD erreichten die Pisa-Ergebnisse – die Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften von 15-Jährigen messen – etwa um das Jahr 2012 ihren Höhepunkt. Im 20. Jahrhundert waren die IQ-Werte weltweit gestiegen, vermutlich durch besseren Zugang zu Bildung und Ernährung. Doch in vielen Industrieländern sinken sie inzwischen wieder.

Sinkende Testergebnisse und IQ-Werte sind umstritten – aber kaum jemand bezweifelt, dass uns mit jedem technologischen Fortschritt die Abhängigkeit von digitalen Geräten tiefer in den Alltag zieht. Wir tun uns zunehmend schwer, ohne sie zu arbeiten, zu erinnern, zu denken oder überhaupt zu funktionieren. „Nur Softwareentwickler und Drogenhändler nennen Menschen User“, murmelt Kosmyna einmal genervt – verärgert darüber, dass KI-Unternehmen ihre Produkte massenhaft auf den Markt drängen, bevor wir ihre psychologischen und geistigen Folgen überhaupt verstehen.

In der immer größer werdenden, reibungslosen Onlinewelt ist man vor allem eines: ein User – passiv, abhängig. In einer Zeit, in der KI Falschinformationen und Deepfakes erzeugt, stellt sich die Frage: Wie behalten wir Skepsis und geistige Unabhängigkeit? Wenn wir irgendwann merken, dass unser Denken gar nicht mehr ganz uns gehört, dass wir ohne technische Hilfe nicht mehr klar denken können – wie viel von uns selbst bleibt dann überhaupt noch übrig, um Widerstand zu leisten?

Bester Fall: eine Symbiose aus klugen Menschen und klugen Maschinen

Wer heute laut sagt, dass er sich Sorgen macht, was intelligente Maschinen mit unserem Gehirn machen, läuft Gefahr, bald als altmodischer Bedenkenträger belächelt zu werden. Schon Sokrates befürchtete, dass das Schreiben die Erinnerung schwäche und nur oberflächliches Wissen fördere – „den Anschein von Weisheit“ statt echter Erkenntnis. Ein Argument, das frappierend an heutige KI-Kritik erinnert. Doch das Gegenteil trat ein: Das Schreiben – und die technischen Fortschritte, die folgten, wie der Buchdruck, die Massenmedien und das Internet – öffneten immer mehr Menschen den Zugang zu Wissen. Immer mehr konnten eigene Ideen entwickeln, sie teilen – und so wurde die Gesellschaft klüger und kreativer.

Schließlich hat das Schreiben nicht nur verändert, wie wir Wissen speichern, sondern auch wie wir denken. Mit Stift und Papier kann man komplexere Aufgaben bewältigen als ohne. Kaum jemand kann 53.683 durch 7 im Kopf teilen, aber auf Papier klappt’s. Auch dieser Text hätte sich kaum diktieren lassen – das Schreiben half, die Gedanken zu ordnen und zu klären. Menschen sind gut darin, was Expertinnen und Experten „kognitive Entlastung“ nennen: Sie nutzen ihre Umgebung, um den mentalen Aufwand zu reduzieren – und schaffen dadurch komplexere Denkleistungen.

Wie schwer wäre der Alltag ohne Kalender, Handy-Erinnerungen oder Google, das alles für uns speichert? Im besten Fall entsteht so eine Symbiose aus klugen Menschen und klugen Maschinen, die gemeinsam neue Erkenntnisse gewinnen und Probleme lösen – etwa wenn KI Forscherinnen hilft, neue Medikamente schneller zu entdecken, oder Ärztinnen Krebs früher zu erkennen.

Doch eine Frage bleibt: Wenn Technologie uns wirklich klüger macht – warum fühlen wir uns dann so oft dumm?

„Brainrot“: Warum halten wir uns im Netz mit Müll auf, statt Neues zu lernen?

Im vergangenen Jahr kürte der Oxford University Press den Ausdruck „Brainrot zum Wort des Jahres. Der Begriff beschreibt sowohl das Gefühl der geistigen Leere, das entsteht, wenn man zu lange gedankenlos durchs Internet scrollt, als auch die aggressiv dumme, zersetzende Online-Kultur selbst – endlose sinnfreie Memes und KI-Müll. In unseren Händen halten wir theoretisch das gesamte Wissen der Welt – und doch verbringen wir Stunden damit, uns durch Unsinn zu wischen.

Ein Grund: Unsere digitalen Geräte wurden nicht entwickelt, um uns klüger oder klarer denkend zu machen. Fast alles, was wir online sehen, wurde so gestaltet, dass es unsere Aufmerksamkeit einfängt und zu Geld macht. Jedes Mal, wenn man das Handy zückt, um „nur kurz“ Nachrichten zu lesen oder etwas Produktives zu tun, trifft unser uraltes Jäger-und-Sammler-Gehirn auf eine Milliardenindustrie, die alles daran setzt, uns vom Kurs abzubringen und festzuhalten – koste es, was es wolle.

Ende der 1990er-Jahre bemerkte die Technologieberaterin Linda Stone, damals Professorin an der New York University, dass ihre Studierenden mit Technik ganz anders umgingen als ihre Kolleginnen und Kollegen bei Microsoft, wo sie ebenfalls arbeitete. Während die Microsoft-Leute diszipliniert an zwei Bildschirmen arbeiteten – einem für E-Mails, einem für Word oder Excel – versuchten ihre Studierenden offenbar, zwanzig Dinge gleichzeitig zu tun.

Stone prägte dafür den Begriff „continuous partial attention“ – zu Deutsch etwa „andauernde geteilte Aufmerksamkeit“. Er beschreibt den angespannten, unfreiwilligen Zustand, in dem wir uns oft befinden, wenn wir zwischen mehreren anspruchsvollen Tätigkeiten hin- und herspringen – etwa wenn wir während eines Zoom-Calls gleichzeitig auf E-Mails antworten.

Studie: 80 Prozent der Menschen atmen beim E-Mail-Checken falsch oder gar nicht

Als ich den Begriff zum ersten Mal hörte, wurde mir klar: Ich lebe die meiste Zeit genau so – wie fast alle, die ich kenne. Ich schaue aufs Handy, obwohl ich gerade mit den Kindern spielen sollte; lasse mich beim Schreiben ständig von Nachrichten und E-Mails ablenken; oder versuche zu entspannen, während Netflix läuft – und ich gleichzeitig den Online-Einkauf erledige. Kein Wunder, dass ich mich dabei so entspannt fühle wie ein zu lange in der Mikrowelle erhitztes Abendessen.

Digitales Multitasking gibt uns das Gefühl, produktiv zu sein – aber das ist meist eine Illusion. „Man hat das trügerische Gefühl, alles im Griff zu haben, ohne jemals etwas wirklich zu Ende zu bringen“, sagt Stone. Außerdem versetzt uns dieser Zustand in dauerhafte Alarmbereitschaft. In einer ihrer Studien fand sie heraus, dass 80 Prozent der Menschen beim E-Mail-Checken falsch oder gar nicht atmen – sie nannte das „Screen-Apnoe“.

„Das Kampf-oder-Flucht-System wird dadurch ständig aktiviert“, erklärt Stone. „Man versucht permanent, alles im Blick zu behalten.“ Diese Überwachsamkeit hat ihren Preis: Sie macht uns vergesslicher, schlechter in Entscheidungen – und weniger aufmerksam.

Warum Netflix andauernd „leichte Unterhaltung“ liefert

Der Begriff „andauernde geteilte Aufmerksamkeit“ erklärt nicht nur das Phänomen des „Brainrot“ – also jenes geistigen Erschöpfungszustands, der entsteht, wenn man der digitalen Dauerablenkung nichts mehr entgegensetzt und sich einfach treiben lässt –, sondern auch die Existenz des ganzen seichten Online-Mülls selbst. Denn für Techkonzerne zählt letztlich nicht, was wir lesen, hören oder schauen – sondern nur, dass wir nicht aufhören.

Darum produzieren Streamingdienste wie Netflix massenhaft austauschbare, formelhafte Filme, die man freundlich als „leichte Unterhaltung“ bezeichnet – in Wahrheit aber so gestaltet sind, dass man sie konsumiert, ohne wirklich hinzuschauen. Spotify wiederum füllt Playlists mit generischer Musik von Fake-Künstlern, um Hintergrundbeschallung für alle zu liefern, die gar nicht wirklich zuhören. Kurz gesagt: Das moderne Internet macht uns vielleicht nicht direkt dumm – aber es trainiert uns, uns so zu verhalten.

In diesem Klima tauchte die KI auf – mit einem völlig neuen Angebot. Bis vor Kurzem konnte man nur Gedächtnisarbeit oder Datenverarbeitung an Maschinen auslagern. Jetzt kann man auch das Denken selbst delegieren. Kein Wunder also, dass viele begeistert darauf anspringen: Schließlich sind wir alle überreizt und erschöpft – und wer lässt sich da nicht gern von einer Maschine helfen, E-Mails zu schreiben, Urlaube zu planen oder Berichte zu formulieren?

Studie: Wer häufiger KI nutzt, schneidet beim kritischen Denken schlechter ab

Beim Übergang von der Internet- zur KI-Ära konsumieren wir nicht nur immer stärker verarbeitete, minderwertige Informationen, sondern zunehmend vorgekaute Inhalte – so präsentiert, dass sie wichtige menschliche Denkprozesse umgehen: Bewerten, Filtern, Zusammenfassen, Hinterfragen. Statt ein Problem wirklich zu durchdenken, übernehmen wir oft einfach die erste plausible Antwort, die eine Maschine liefert.

Der Forscher Michael Gerlich, Leiter des Centre for Strategic Corporate Foresight and Sustainability an der SBS Swiss Business School, begann die Auswirkungen von KI auf das kritische Denken zu untersuchen, nachdem er merkte, dass die Qualität der Klassendiskussionen nachließ. Früher diskutierten Studierende miteinander – nun saßen sie schweigend vor ihren Laptops. Auch andere Lehrende berichteten Ähnliches. Gerlich führte daraufhin eine Studie mit 666 Teilnehmenden unterschiedlichen Alters durch – Ergebnis: Wer häufiger KI nutzt, schneidet beim kritischen Denken schlechter ab. Allerdings betont er, dass dies bisher nur eine Korrelation belegt: Vielleicht greifen Menschen mit schwächerem kritischem Denken einfach eher auf KI zurück.

Wie viele Forschende glaubt auch Gerlich, dass KI richtig eingesetzt uns klüger und kreativer machen kann. Doch wie die meisten sie aktuell verwenden, führt zu langweiligen, unoriginellen und teils fehlerhaften Ergebnissen. Ein Problem nennt er den „Ankereffekt“: Wenn man einer KI eine Frage stellt, legt die erste Antwort sofort eine gedankliche Richtung fest – man wird weniger offen für Alternativen. Gerlich erklärt das so:

Stell dir eine Kerze vor. KI kann helfen, diese Kerze zu verbessern – sie wird heller, länger brennen, billiger und schöner aussehen. Aber sie wird nie die Glühbirne erfinden

Michael Gerlich

Um von der Kerze zur Glühbirne zu kommen, brauche es Menschen mit kritischem Denken, die bereit sind, chaotisch, unstrukturiert und unvorhersehbar zu denken. Wenn Unternehmen KI-Tools wie Copilot einführen, ohne den Mitarbeitenden beizubringen, wie man sie sinnvoll nutzt, dann produzieren sie – so Gerlich – nur noch mittelmäßige Kerzenmacher in einer Welt, die eigentlich Glühbirnenbauer braucht.

Ein weiteres Problem: Erwachsene, die heute KI als Abkürzung nutzen, haben wenigstens noch eine Schulzeit erlebt, bevor Computer ihre Hausaufgaben schreiben konnten. Bei der jungen Generation ist das anders. Einer aktuellen britischen Umfrage zufolge nutzen 92 Prozent der Studierenden KI, und rund 20 Prozent haben sie bereits genutzt, um Teile oder ganze Hausarbeiten schreiben zu lassen. Doch wie viel lernen sie dabei wirklich? Sind Schulen und Universitäten noch in der Lage, kreative, eigenständig denkende Menschen hervorzubringen – oder produzieren sie künftig nur noch gedankenlose KI-Schreibdrohnen?

Zwei US-Lehrer sagen: Zu viel Technologie macht Kinder dümmer!

Der US-Lehrer Matt Miles, Psychologielehrer an einer High School in Virginia, erinnert sich an ein Lehrertraining Ende der 2010er-Jahre. Darin wurde ein Video gezeigt: Ein Schulmädchen wird im Unterricht beim Handygebrauch ertappt. Sie schaut auf und sagt: „Sie denken, ich bin auf TikTok oder spiele – in Wahrheit spreche ich gerade mit einer Wasserforscherin aus Botswana für mein Projekt.“ Miles lacht: „Das ist völlig unrealistisch. Zeig das Video Jugendlichen – sie lachen sich kaputt.“

Beunruhigt über die Kluft zwischen der politischen Vision von „digitaler Bildung“ und der realen Unterrichtspraxis, veröffentlichten Miles und sein Kollege Joe Clement 2017 das Buch Screen Schooled. Ihre These: Zu viel Technologie macht Kinder dümmer.

Inzwischen sind Smartphones in ihren Klassenzimmern verboten, doch die Schüler arbeiten weiterhin an Laptops. Einer von ihnen brachte es treffend auf den Punkt: „Wenn du mich am Handy siehst, ist die Chance, dass ich etwas Produktives mache, bei null. Wenn ich am Laptop bin – bei fünfzig Prozent.“

OECD-Studie: Häufige Technikanwendung in Schulen verschlechtert die Ergebnisse

Vor der Pandemie, sagt die Bildungsforscherin Faith Boninger von der Universität Colorado, seien Lehrkräfte zu Recht skeptisch gewesen, mehr Technologie in den Unterricht zu holen. Doch mit den Lockdowns kam der Zwang zur Digitalisierung – und Plattformen wie Google Workspace for Education, Kahoot! und Zearn wurden allgegenwärtig.

Mit dem Aufstieg der KI kamen neue Versprechen: personalisiertes Lernen, weniger Arbeitsbelastung für Lehrkräfte, eine Revolution des Bildungssystems. Doch fast alle Studien, die solche Vorteile zeigen, sind von der EdTech-Industrie finanziert. Unabhängige Großstudien hingegen kommen meist zu einem anderen Schluss: Je mehr Technik im Unterricht, desto schlechter die Leistungen.

Eine globale OECD-Studie ergab etwa, dass häufige Technikanwendung in Schulen die Ergebnisse verschlechtert.
„Es gibt schlicht keine unabhängigen Belege im großen Maßstab für die Wirksamkeit dieser Werkzeuge“, sagt Wayne Holmes, Professor für „Critical Studies of AI and Education“ am University College London. „Im Grunde experimentieren wir gerade an Kindern.“ Dann zieht Holmes einen drastischen Vergleich:

Kein vernünftiger Mensch würde in eine Bar gehen, jemanden treffen, der sagt: ‚Ich hab da eine neue Droge, die ist super für dich‘ – und sie einfach nehmen. Wir erwarten, dass Medikamente getestet und von Fachleuten verschrieben werden. Aber bei Bildungstechnologie, die angeblich gut für das sich entwickelnde Gehirn von Kindern ist, gilt das plötzlich nicht mehr

Wayne Holmes

Miles und Clement sorgen sich nicht nur darum, dass ihre Schülerinnen und Schüler ständig abgelenkt sind. Sie fürchten, dass sie kein tiefes Wissen und kein kritisches Denken mehr entwickeln, weil jede Antwort nur einen Klick entfernt ist. Früher stellte Clement Fragen wie: „Wo liegt die USA beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im weltweiten Vergleich?“ – und leitete eine Diskussion an. Heute hat jemand die Antwort längst gegoogelt, bevor er den Satz beendet hat.

Die beiden wissen, dass Schüler ständig ChatGPT nutzen – und genervt sind, wenn sie keine digitale Version der Aufgaben bekommen, weil sie dann selbst tippen müssen, statt Fragen einfach ins KI-Fenster oder die Google-Suche zu kopieren. „Etwas googeln zu können und die richtige Antwort zu liefern, ist kein Wissen“, sagt Clement. „Wissen bedeutet, dass man, wenn man Unsinn hört, innerlich denkt: Moment, das widerspricht allem, was ich weiß.

Kein Wunder also, dass es Menschen gibt, die glauben, die Erde sei flach. „Wenn du so einen Flat-Earth-Blog liest, denkst du vielleicht: Klingt plausibel – einfach, weil dir das Hintergrundwissen fehlt.“ Das Internet ist ohnehin schon voll von Verschwörungstheorien und Falschinformationen – und KI wird das durch ihre realistisch klingenden Halluzinationen noch verschärfen. Junge Menschen, so befürchten die Lehrer, sind darauf schlecht vorbereitet.

Was, wenn die Maschinen selbst dumm sind?

Während der Pandemie, erzählt Miles, sah er seinen kleinen Sohn eines Tages weinend über seinem Schultablet sitzen. Das Gerät gab eine Mathematikaufgabe vor: Er sollte die Zahl 6 mit möglichst wenigen Spielsteinen (Einsen, Dreien und Fünfen) bilden. Der Junge schlug zwei Dreien vor – und der Computer lehnte ab. Dann probierte Miles selbst eins und fünf – das Programm akzeptierte das Ergebnis.

„Das ist genau der Albtraum einer nicht-menschlichen KI“, sagt Miles. Kinder nähern sich Problemen oft kreativ und unerwartet, doch Maschinen können mit solchen Ideen nicht umgehen.

Ich selbst dachte beim Zuhören jedoch an einen anderen Albtraum: Vielleicht beginnt das neue goldene Zeitalter der Dummheit gar nicht erst dann, wenn wir uns superintelligenten Maschinen unterwerfen, sondern schon dann, wenn wir die Macht an dumme Maschinen abgeben.

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