Am Montagnachmittag flatterte die nächste Hiobsbotschaft herein: Thyssenkrupp Steel Europe will in den nächsten sechs Jahren 11.000 Stellen abbauen. Dann würden bei der größten Stahlfirma Deutschlands nicht mehr 27.000 Menschen arbeiten, wie das aktuell der Fall ist, sondern nur noch 16.000. „Die Entscheidung des Konzerns ist Ergebnis des großen Drucks, unter dem die Stahlindustrie seit vielen Jahren weltweit steht“, kommentierte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Pläne. Dabei ist es ja längst nicht nur die Stahlbranche, die sich derzeit im Sinkflug befindet.
Die Liste der Krisenmeldungen wird länger: Bosch will 5.500 Stellen abbauen, Ford reduziert massiv seine Belegschaft, VW schließt Standorte. Kein Wunder, dass dieser Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vielen sauer aufgestoßen ist: „Die Klage ist das Lied des Kaufmanns.“ Zeigt doch die Insolvenzstatistik einen drastischen Anstieg. Ist das noch eine normale Rezession? Oder befinden wir uns bereits auf dem Weg der Deindustrialisierung?
Lange galt ein solches Szenario in der politischen Debatte eher als Panikmache. Doch angesichts der jüngsten Entwicklungen lässt sich das Risiko nicht mehr so einfach schönreden. Befürchtungen, Deutschland könne in die Deindustrialisierung abrutschen, wurden spätestens nach dem Energiepreisschock von 2022 lauter. Der Ukrainekrieg und das damit verbundene Ende günstiger russischer Gasimporte setzten besonders energieintensive Branchen wie Chemie, Metallverarbeitung und Glasherstellung unter enormen Druck. Unternehmenschefs wie Martin Brudermüller von BASF, Arbeitgeberverbände wie Gesamtmetall oder der VDA warnten vor einer schleichenden Abwanderung der Industrie.
In der Zeitarbeitsbranche gingen 119.000 Jobs innerhalb von zwei Jahren verloren
Andere Stimmen, darunter der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher oder Moritz Schularick, Präsident des Kieler Insitituts für Weltwirtschaft, erklärten, die Angst vor einer Deindustrialisierung sei übertrieben. Einschlägige „Faktenchecker“ und Thinktanks erklärten, die Befürchtungen würden durch russische Propaganda und populistische Narrative geschürt. Das stimmte zwar, aber damit war das zugrundeliegende Problem nicht aus der Welt. In der moralisierenden Debattenkultur führte solch ein Framing aber dazu, dass die Warnung vor einer drohenden Deindustrialisierung vielen als politisch unkorrekt galt. Mit den aktuellen Zahlen wird klar: Die Gefahr ist real.
Ein Blick auf die Datenlage zeigt, dass die industrielle Basis Deutschlands tatsächlich in Bedrängnis ist. Schauen wir uns drei Indikatoren an: die Zahl der Industriearbeitsplätze, die Industrieproduktion und die Direktinvestitionen. Alle drei: rückläufig.
Laut Bundesagentur für Arbeit wurden von August 2023 bis August 2024 im Verarbeitenden Gewerbe 71.000 Stellen gestrichen. Im Jahr zuvor hatte der Jobverlust in der Industrie unterm Strich noch bei 6.000 gelegen, was zeigt, wie sich die Sache beschleunigt. Tatsächlich ist die Lage aber noch schlimmer: Ein relevanter Teil der Industriearbeit versteckt sich in der Zeitarbeit. Hier sind 119.000 Jobs innerhalb von zwei Jahren verloren gegangen.
Auch die Industrieproduktion ist seit ihrem Höchststand im November 2017 um fast 17 Prozent gefallen. Seit der Coronapandemie hat sie sich nicht mehr erholt. Im Gegenteil: Seit 2022 – dem Jahr, als praktisch alle Ökonomen mit einem kräftigen Aufschwung rechneten – zeigen die Daten des Statistischen Bundesamtes nach Jahren der Stagnation sogar einen klaren Abwärtstrend. Von September 2022 bis September 2024 fiel die Industrieproduktion im Inland um 8,3 Prozent.
Deutschland befindet sich auf dem Pfad der Deindustrialisierung
Eine Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt, dass zunehmend Kapital aus Deutschland abfließt. Im Jahr 2022 verzeichnete Deutschland Rekordabflüsse von Direktinvestitionen in Höhe von etwa 125 Milliarden Euro. 2023 entspannte sich die Lage etwas, doch mit einem Netto-Abfluss von rund 94 Milliarden Euro bleibt das Niveau außergewöhnlich hoch. Dies war der dritthöchste Wert seit 1971. Im OECD-Vergleich verzeichnete Deutschland 2022 die höchsten Netto-Abflüsse von Direktinvestitionen unter den Mitgliedsstaaten. 2023 wurde Deutschland diesbezüglich nur noch von Japan übertroffen.
Angesichts dieser Zahlen ist kaum bestreitbar, dass sich Deutschland bereits auf einem Pfad der Deindustrialisierung befindet. Die spannende Frage ist, ob und wie dieser Kurs korrigiert werden kann.
Nun verliert die deutsche Industrie im gesamtwirtschaftlichen Kontext schon seit vielen Jahrzehnten nach und nach an Bedeutung gegenüber dem Dienstleistungssektor mit Branchen wie IT, Kommunikation, Pflege oder Gesundheitswesen. Haben wir es also mit einem normalen Strukturwandel zu tun? Das Problem ist zweifellos vielschichtig. Das sollte uns aber nicht den Blick dafür verstellen, dass ein Ausweg aus der Deindustrialisierungsfalle durch Hindernisse auf drei zentralen Problemfeldern blockiert wird: Energiesicherheit, Schuldenbremse und Industriepolitik.
Anders als Konservative und Rechtspopulisten behaupten, sind Kohleausstieg und Energiewende nicht die Ursache für den Niedergang. Die Transformation ist alternativlos. Ein Problem ist, dass der Ausbau von erneuerbaren Energien über Jahrzehnte verschleppt und viel zu halbherzig angegangen wurde. Das gilt nicht nur für die Energieerzeugung, sondern auch ihre industrielle Basis, vor allem den Windkraftanlagenbau, in dem Deutschland seine einstige globale Technologieführerschaft verspielt hat. Ambitionierte Projekte wie der Plan, in Bremerhaven einen zentralen Versorgungshafen für Offshore-Windparks in der Nordsee zu etablieren, wurden begraben.
Tom Krebs: Wir brauchen öffentliche Investitionen in Höhe von 457 Milliarden Euro
Zugleich hat der Energiepreisschock im Zuge der Eskalation des Ukrainekonflikts gezeigt, wie abhängig Deutschland trotz aller Bemühungen, den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen, immer noch von günstiger fossiler Energie ist. Ohne Erdgas als Brückentechnologie wird die Transformation nicht gelingen. Im Klartext heißt das: nicht ohne eine Beilegung des Konflikts mit Russland. Voraussetzung dafür wäre, dass eine nachhaltige diplomatische Lösung gefunden wird. Also muss man danach suchen, anstatt der kreuzgefährlichen Wahnidee eines militärischen Sieges über die Atommacht Russland hinterherzujagen.
Zweitens bräuchte es eine echte Reform der Schuldenbremse. Ohne erhebliche öffentliche Investitionen wird Deutschland seine Infrastruktur und Industrie nicht zukunftsfähig machen können. Der Investitionsstau in Deutschland ist ein zentrales Thema in der wirtschaftspolitischen Diskussion. Der Mannheimer Ökonom Tom Krebs schätzte in einer Stellungnahme für den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages im Februar 2020 den zusätzlichen Bedarf an öffentlichen Investitionen in den Bereichen Bildung, erneuerbare Energien, Verkehrsinfrastruktur, digitale Infrastruktur und Wohnen auf insgesamt 457 Milliarden Euro. Dabei entfielen etwa zwei Drittel dieses Bedarfs auf originäre Aufgaben der Kommunen und Länder.
Eine weitere Studie von Krebs aus dem Jahr 2021 fokussierte sich auf die öffentlichen Finanzbedarfe für Klimainvestitionen im Zeitraum 2021 bis 2030. Hier wurde der Finanzbedarf für Bundesinvestitionen auf 90 Milliarden Euro und für kommunale Klimainvestitionen auf 170 Milliarden Euro geschätzt. Zusammen mit der Förderung privater Investitionen ergab sich ein Gesamtbedarf von etwa 460 Milliarden Euro für diesen Zeitraum. Die strikte Schuldenbremse blockiert jedoch staatliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Innovation. Eine Reform könnte hier Spielraum schaffen, um dringende Projekte anzustoßen.
Drittens: Deutschland braucht eine aktive Industriepolitik, die sich nicht auf kurzfristige Subventionen beschränkt. Stattdessen sollte ein langfristiger Masterplan entwickelt werden, der klimafreundliche Technologien, die Transformation der Automobilindustrie und den Ausbau erneuerbarer Energien gezielt fördert. Subventionen sollten an soziale und ökologische Bedingungen wie Tarifbindung und Standorttreue gekoppelt werden. Wo es der Markt nicht schafft, muss der Staat selbst die Dinge in die Hand nehmen. Die schlechte Nachricht ist, dass die nächste Bundesregierung diese Probleme voraussichtlich nicht lösen wird. Veränderungen sind dennoch möglich, aber nur, wenn sich eine gesellschaftliche Bewegung formiert, die diese Ziele mit Nachdruck einfordert. Ansätze dafür gibt es.
Veränderung von unten hat bereits begonnen
Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, haben sich in den letzten Jahren verstärkt für eine aktive Industriepolitik ausgesprochen und fordern Investitionen in nachhaltige Technologien sowie den Schutz von Arbeitsplätzen durch tarifliche und ökologische Standards. Umweltorganisationen wie Fridays for Future oder die Klima-Allianz bringen ebenfalls konkrete Vorschläge ein, etwa den Aufbau regionaler Energiegenossenschaften oder die Stärkung von Stadtwerken.
Wissenschaftliche Akteure wie das Wuppertal Institut oder das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) liefern wirtschaftspolitische Konzepte, die öffentliche Investitionen in klimafreundliche Mobilität und emissionsarme Produktion mit der Schaffung guter Arbeitsplätze verbindet. Veränderung von unten hat bereits begonnen – allerdings fehlt ihr bislang die nötige politische Durchschlagskraft, um tatsächlich eine Wende einzuleiten. Ein Zusammenschluss dieser Kräfte, der soziale und ökologische Ziele in einem gemeinsamen Programm vereint, könnte die Grundlage für eine Bewegung sein, die nicht nur eine Abwärtsspirale aufhält, sondern die Transformation aktiv gestaltet.
Leider gibt es wenig Grund für Optimismus. Die Herausforderungen sind gewaltig, das politische Personal wenig vertrauenerweckend, die Öffentlichkeit zerstritten und streitunfähig zugleich. Was bleibt, ist fürs Erste die nüchterne Feststellung: Deutschland steht vor einer Richtungsentscheidung. Werden wir unsere industrielle Basis retten? Oder überlassen wir den Strukturwandel Marktkräften, die keine Rücksicht auf soziale und ökologische Ziele nehmen? Die Zeit zum Nachdenken, Bündnisse schmieden und Handeln ist knapp. Vorbei ist sie aber noch nicht.