Siemens-Healthineers-Chef Bernd Montag lobt den Standort Deutschland

Wir sind happy in Deutschland. Sie sehen die Kräne draußen, wir bauen unsere Produktion hier in Forchheim gleich an mehreren Stellen aus. Insgesamt haben wir in den vergangenen Jahren rund 650 Millionen Euro in den Ausbau unserer deutschen Standorte investiert, und die Zahl unserer Mitarbeiter in Deutschland ist im gleichen Zeitraum um mehr als 20 Prozent gestiegen – und das, obwohl wir hier nur rund 5 Prozent unseres Gesamtumsatzes erzielen.

Von manchen anderen Unternehmen hört man: Wir würden ja gern investieren, bekommen aber keine Baugenehmigung, weil seltene Kröten oder Nager den Behörden wichtiger sind.

Ich weiß nicht, woher dieser Klagereflex kommt. Nach meiner Wahrnehmung ist Deutschland nicht so schlecht, wie es gemacht wird. Entweder lebe ich in einer anderen Realität – oder es hat sich eine Anspruchshaltung breitgemacht, die ich so nicht nachvollziehen kann.

Wie meinen Sie das?

Man fragt zu oft: Was kann der andere für mich tun? Ich bin theoretischer Physiker, ich will mich jetzt nicht als Welterklärer aufspielen. Aber für meinen Geschmack liegt die Schwelle, ab der man über eine fehlende Baugenehmigung oder dergleichen klagt, sehr niedrig.

Wie erklären Sie sich das?

Ich erlebe das als eine Haltung, die einem zurzeit sehr nahegelegt wird, übrigens auch von den Medien. Das verstärkt sich gegenseitig. Ich finde: Ein Unternehmen ist nicht in erster Linie zum Jammern da. Nehmen wir einmal das Beispiel USA. Ich weiß nicht, ob wir uns wirklich amerikanische Verhältnisse in der Politik wünschen sollten. Und umgekehrt weiß ich nicht, ob ein amerikanischer Unternehmer hier die gleiche Klagetonlage anschlagen würde, wie man es derzeit von einer Reihe von Einheimischen hört.

Läuft bei Ihnen denn immer alles glatt mit den Behörden?

Wir mussten unseren großen Neubau hier wegen der Turmfalken, die auf dem Gelände genistet haben, auch ein wenig anders bauen als zuerst gedacht. Aber das war eigentlich keine Frage der Baugenehmigung, sondern der Rücksichtnahme. Und es ist ja nicht verkehrt, auf bestimmte Sachen Rücksicht nehmen zu müssen. Mein Eindruck ist, dass die Kommunen uns unterm Strich großes Verständnis entgegenbringen. Sie verstehen unsere Bedürfnisse und wir ihre. Das funktioniert sehr gut. Dass wir ab und zu über die Gewerbesteuer geteilter Meinung sind, ändert daran im Grundsatz nichts.

Glückliches Franken. Anderswo werden Fabriken von wütenden Demonstranten lahmgelegt, zuletzt war Tesla vor den Toren Berlins das Ziel. Sind die regionalen, vielleicht kulturellen Unterschiede so groß?

Das kann ich schwer beurteilen, dazu fehlt mir der direkte Vergleich. Aber wo wir sind, geht es gut. Und wir haben nicht nur hier in Franken Produktionsstandorte, sondern zum Beispiel auch in der Oberpfalz und in Thüringen.

Hat also der Bundeskanzler recht, wenn er den Wirtschaftslenkern im Land Nörgelei vorwirft?

Ich glaube, dass jeder eine Aufgabe hat, die Zukunft zu gestalten und unser Land nach vorne zu bringen. Das gilt für die Politik genauso wie für die Wirtschaft. Wir müssen aufpassen, dass aus der Behauptung, alles sei schlecht, keine sich selbst bestätigende These wird. Wer aus dem Ausland nach Deutschland kommt und diese Debatte mitbekommt, ist darüber meistens eher irritiert.

Aber nur so lange, bis er oder sie zum ersten Mal mit der Bahn fährt.

Die Bahn. Ich gebe Ihnen recht, da läuft nicht alles super. Nach dem letzten Heimspiel von Bayern München war ich selbst erst um ein Uhr morgens zu Hause. Aber daraus eine Argumentationskette zu bilden – die Bahn ist nicht pünktlich, also ist das ganze Land eine Kata­strophe –, finde ich übertrieben und auch ein bisschen komisch. Was da am Werk ist, nennt man in der Psychologie „confirmation bias“: Ich suche nur Sachen, die meine Grundhaltung bestätigen. Wäre denn alles gut, wenn nur die Bahn pünktlich wäre?

Ganz oben auf der Mängelliste vieler Ihrer Kollegen stehen Regulierungen wie das Lieferkettensorgfaltspflich­tengesetz, an denen die Unternehmen angeblich zu ersticken drohen.

Da gibt es sicher ein paar Dinge, wo der deutsche Gesetzgeber übers Ziel hinausgeschossen ist. Aber wenn ich ehrlich bin: Wir Healthineers sind auch nicht immer perfekt. Und dann stellt sich die Frage: Ist eine bestimmte unperfekte Verordnung nur ein Ärgernis – oder ein Standortrisiko? Ich würde sagen: ein Ärgernis. Und ich bin in letzter Zeit auch keinem Amtsleiter und auch sonst niemanden begegnet, der versucht hätte, uns durch Regeln zu erdrosseln.

Was haben Sie Gutes über Deutschland zu berichten, was die Nörgel-Unternehmer übersehen?

Als Erstes fallen mir da die berufsbegleitende Ausbildung und die dualen Studiengänge ein, um die uns viele andere Länder beneiden. Wir haben rund tausend Werksstudenten, ich war selbst mal einer. Ich habe die Uni sehr geschätzt und die theoretische Physik auch. Aber die Begeisterung für das Thema habe ich erst im Unternehmen gespürt.

Wollen Sie ausgerechnet das deutsche Bildungssystem loben, das seit 2012 in allen internationalen Vergleichsstudien zurückgefallen ist?

Wir müssen alle zusammen eindeutig mehr tun, damit sich das wieder bessert. Wir müssen die Ausbildung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern stärken und vor allem mehr Frauen auf diesen Weg bringen. Aber damit uns das gelingt, hilft uns Optimismus besser als Weltuntergangsstimmung. Und ich würde diese Aufgabe lieber nicht komplett auf die Politik schieben.

Warum nicht?

Weil das Planwirtschaft wäre. Wollen wir wirklich von Politikern erwarten, dass sie auf allen für uns relevanten Technologiefeldern so viel Expertenwissen mitbringen, um richtig einzuschätzen, was die Technologien der Zukunft sind? Das wäre nicht besonders klug. Die Politik muss die Rahmenbedingungen für die Bildung setzen, aber die Inhalte würde ich ihr auf diesem Feld nicht gerne allein überlassen.

Sie haben die Berufsausbildung als ersten Vorzug Deutschlands genannt. Welche weiteren haben Sie im Kopf?

In Deutschland gibt es ein anderes industrielles Selbstverständnis als beispielsweise in Großbritannien. Dort wurde es fast schon als eine Sensation wahrgenommen, als wir vor Kurzem die Erweiterung eines Standorts zur Herstellung von Magneten für unsere Kernspintomographen angekündigt haben. So außergewöhnlich ist es dort geworden, dass ein Unternehmen wirklich etwas herstellt und nicht bloß entwickelt oder verwaltet. Das ist in Deutschland anders. Dazu kommt, dass wir ganz gut verstehen, dass Deutschland als Markt allein zu klein ist und man auf der ganzen Welt agieren muss, um erfolgreich zu sein. Das ist eine echte deutsche Stärke. In vielen amerikanischen Unternehmen gibt es ein US-Geschäft und daneben den Rest der Welt. Das macht es schwer, zu verstehen, wie der japanische, der chinesische, der indische Markt funktioniert. Unsere Mitarbeiter dagegen treten nach ein, zwei Jahren Kollegen und Kunden aus aller Welt parkettsicher entgegen. Dahinter steht das Bewusstsein, dass Deutschland nicht das Maß aller Dinge ist. Ich sehe das als Vorteil.

Wie geht es angesichts hoher Löhne und strenger Auflagen überhaupt, hier in Forchheim Röntgengeräte und Computertomographen her­zustellen und mit Gewinn zu exportieren?

Das geht, weil wir ein Hochtechnologieunternehmen sind. Wir stellen Kleinserien her, jeweils nur wenige Tausend Systeme im Jahr. Da ist der Lohnkostenanteil vergleichsweise gering. Wir brauchen auch nicht viele Rohstoffe, sind nicht besonders energieintensiv. Es geht vielmehr um Präzision und technologische Kompetenz, wenn Sie so wollen: um klassische deutsche Ingenieurstugenden. Und um Loyalität, noch ein altmodischer Begriff. Ich meine die hohe Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen und umgekehrt. Das zusammen macht uns wettbewerbsfähig.

Ein Glück in der Nische?

Wenn es eine Nische ist, dann eine große. Unsere Branche, die Sie als indus­trielle Gesundheitswirtschaft bezeichnen können, geht in der öffentlichen Diskussion ein bisschen unter. Wir entsprechen nicht der üblichen Vorstellung davon, was die deutschen Leitindustrien sind. Dabei beschäftigen wir ungefähr eine Million Menschen im Land.

Das ist mehr als die Autoindustrie.

Das hängt davon ab, wen Sie alles mitzählen. Aber ja, es ist eine große Branche. Und was wir tun, steht nach meiner Ansicht dem Standort Deutschland sehr gut. Umgekehrt sind wir auch für das, was wir tun, mit dem Standort Deutschland ziemlich zu­frieden. Wir sind mit unseren Geräten Marktführer in praktisch allen Regionen der Welt.

Wie lange geht das noch gut, wenn die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland zurückgeht, die Arbeitszeitwünsche sinken und die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden auch?

Kürzere Arbeitszeiten zu fordern, während sich gleichzeitig der Fachkräftemangel verstärkt, ist kein guter Weg. Das besorgt mich prinzipiell schon. Mit Siemens Healthineers befinden wir uns jedoch in einer günstigen Ausnahmesituation. Wir finden viele hoch qualifizierte Leute, die oft ihr ganzes Berufsleben bei uns verbringen. Auf rund 1200 offene Stellen bekamen wir im vergangenen Jahr 32.000 Bewerbungen. Bei uns kann man viel über Medizin, über Technologie und über globale Zusammenhänge lernen. Das finden offenbar viele interessant.

Wie viel Lust auf lange Arbeitstage haben die jungen Leute, die sich bei Ihnen bewerben?

Es geht den meisten nach meinem Eindruck nicht so sehr darum, ihre Arbeitszeit zu verkürzen oder sie auch nur auf die Minute genau zu messen. Was die Leute wollen, ist erstens eine Möglichkeit zur Identifikation mit ihrer Aufgabe und zweitens Flexibilität bei der Ge­staltung ihrer Arbeitszeit. Dann sind sie auch bereit, hart zu arbeiten. Sie ­wollen aber auch ihre Kinder in den Kindergarten bringen können oder mal eine Woche lang von irgendwoher im Homeoffice arbeiten können. Diese Wünsche gibt es, und ich halte sie für gerechtfertigt.

Bleibt es also auch in Zukunft dabei, dass Sie im Verhältnis zum Umsatzanteil überproportional viel Geld in Deutschland investieren?

Ja, dabei bleibt es.

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