Şeyda Kurt: „Boykottieren, verweigern, stören. Ohne uns gibt es keine Kriegsmaschinerie!“

Nachdem die Kölner Polizei ein Protestcamp des Antikriegsbündnisses „Rheinmetall entwaffnen“ verboten hatte, solidarisierte sich die Autorin Şeyda Kurt mit den Aktivisten. Auf der Pressekonferenz des Bündnisses sprach sie Mitte August von einer Militarisierung der Stadtviertel und prangerte Angriffe auf die Versammlungsfreiheit sowie eine systematische Stärkung patriarchaler Kultur an. Im Interview spricht sie über die verschiedenen Facetten der Militarisierung.

der Freitag: Sie sprechen von einer „Militarisierung nach innen“. Was meinen Sie damit konkret?

Şeyda Kurt: Viele denken bei der Militarisierung an mehr Personal für die Bundeswehr. Natürlich ist das ein Teil davon. Doch immer, wenn Staaten behaupteten, in einer Kriegssituation zu sein, wurden damit auch innenpolitische Entscheidungen getroffen, die das Leben der Menschen unmittelbar beeinflussten.

Aktuell führt das etwa zu Diskussionen über mehr Sicherheit durch Überwachung, mehr Befugnisse für die Staatsmacht, aber auch um die Lockerung des Acht-Stunden-Tags oder den Abbau der Gesundheitsversorgung. Das geht einher mit einer Kultur der Militarisierung: gewisse Männlichkeitsbilder werden wieder populär. Allgemein führt dies zu einer umfassenden gesellschaftlichen Verrohung.

Haben Sie andere Beispiele für die Militarisierung im Leben der Menschen?

Das sieht man vor allem in klassischen Arbeitervierteln, wo viele migrantische und geflüchtete Menschen leben. Ich komme aus Köln und in Mülheim entsteht aktuell eine neue Panzerzentrale. Mülheim wurde in den 80er und 90er Jahren systematisch deindustrialisiert. Heute befinden sich in diesem Viertel viele arme Menschen, die aus marxistischer Sicht eine „Reservearmee“ darstellen. Menschen also, die im Falle einer Aufrüstung wieder als Arbeitskraft gebraucht und reaktiviert werden. Darauf werden die Viertel auch systematisch vorbereitet.

In Köln-Mülheim liegt die Armutsgefährdungsquote bei 30 Prozent. Wie macht sich Ihrer Meinung nach diese systematische Vorbereitung dort bemerkbar?

Wenn ich einkaufen gehe, sehe ich, wie die Polizei Obdachlose schikaniert oder willkürliche Razzien in migrantisch geführten Läden durchführt. Das schafft Misstrauen zwischen den Nachbarn. Es schafft Ohnmacht, Wut und Frust. Gleichzeitig spart der Staat bei der öffentlichen Infrastruktur, um die Aufrüstung zu finanzieren. Dadurch entsteht in den Vierteln eine tiefe Unsicherheit und es hält eine Prekarisierung der Lebensumstände Einzug.

Denn Kriegstüchtigkeit bedeutet, dass Menschen wieder bereit sind, an die Front zu gehen und andere Menschen zu töten.

Was hat das konkret mit Militarisierung zu tun?

Es geht auch darum, in traditionell antifaschistischen, migrantischen Vierteln Widerstand gegen die Militarisierung zu ersticken. Die Polizei ist hier die ausführende Kraft und vertritt damit quasi das, was das Militär nach außen ist, nach innen. Wir sehen, wie diese Polizei mit ihrer Ausrüstung und ihrem Auftreten immer militärischer wird.

Und wie steht die Militarisierung der Kultur damit in Verbindung?

Man will die autoritäre Abwärtsspirale, die sich mit der Prekarisierung und Verwahrlosung der Menschen zeigt, für das Überleben einer sogenannten Volksgemeinschaft legitimieren. Die Menschen sollen zu der Überzeugung kommen: Die einzige Art und Weise, dass ich überlebe, dass meine Familie überlebt, dass „unser deutsches Volk“ überlebt, ist die bewaffnete Auseinandersetzung, Tod und Verwüstung. Denn Kriegstüchtigkeit bedeutet, dass Menschen wieder bereit sind, an die Front zu gehen und andere Menschen zu töten.

Es gibt ein Comeback eines patriarchalen, soldatischen Männlichkeitsbilds: der Mann als Beschützer, der im Notfall bereit ist, zur Waffe zu greifen. Das zentrale Narrativ ist hierbei: Die Gefahr kommt von außen und greift uns an. Auf der anderen Seite steht die Frau, die wieder in die passive Rolle der Pflegenden gezwängt wird. Das hat auch praktische Gründe: Wenn der Staat Pflegestrukturen abbaut, sei es Kindererziehung oder die Pflege von alten Menschen, werden diese ins Private verlagert. Die Arbeit bleibt mehrheitlich wieder an Frauen hängen.

Was ist denn das Problem an einem soldatischen Männlichkeitsbild?

Wenn man durch patriarchale Logiken eine Gesellschaft kriegstüchtig machen will, dann löst dies strukturelle Gewalt aus. Es ist eine „Pädagogik der Grausamkeit“, um die argentinische Anthropologin Rita Laura Segato zu zitieren. Sie beschreibt damit eine Kultur, die Menschen emotional abstumpft und damit voneinander entfremdet. Dabei fungiert Gewalt als Mittel der Kommunikation und wird so lange wiederholt, bis sie als normal erscheint. So legt die Forschung nahe, dass gerade Polizisten und Soldaten überproportional häufig Täter von Partnerschaftsgewalt sind, was bei den angesprochenen Narrativen naheliegend ist.

Es gibt keinen feministischen Krieg und keine feministische Militarisierung.

Und welche Auswirkungen hat die kulturelle Militarisierung auf Männer jenseits der Polizisten- oder Soldatenberufe?

Zum Beispiel: Mein Cousin ist 17 Jahre alt. Während der Corona-Pandemie war er in der Pubertät und hat erlebt, wie all seine Sicherheitsstrukturen weggefallen sind. Seine Schule wurde geschlossen und die Politik hat ihn im Stich gelassen. Die Wirtschaftskrise macht ihm Angst vor der Zukunft. Heute spricht er davon, dass er natürlich für Deutschland kämpfen würde. Der heraufbeschworene Korpsgeist spricht bei ihm und vielen jungen Männern ein Bedürfnis nach Sicherheit und Struktur an.

Die Grünen propagieren nicht das bisher angesprochene Männlichkeitsbild. Trotzdem befürworten sie die Aufrüstung mit Argumenten von Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und Verteidigung der Demokratie.

Akteure wie die Grünen legitimieren mit ihrem Zuspruch zum einen autoritäre Kräfte und vor allem sorgen sie dafür, dass es keine breite, progressive Opposition gegen diese Kräfte gibt. Die Grünen vermitteln das Narrativ: Selbst wir als Linke können es uns nicht mehr leisten, ideologisch zu sein, wir müssen jetzt pragmatisch handeln. So kann keine politische Kraft entstehen, die einen Anspruch auf die demokratische Kontrolle der Militarisierung fordert.

Sie versuchen, Militarisierung und Kriegstüchtigkeit als cool darzustellen. Ich werde nie vergessen, wie die Grünen-Politikerin Sara Nanni 2023 im Leopardenprint-Outfit für den Leopard-Panzer warb. Dazu verkehrt diese ehemalige „humanistische Partei“ sämtliche moralische und politische Vorstellungen und stellt die Aufrüstung als einzig ethische Lösung dar. Sie verknüpfen Kriegstüchtigkeit mit Diversität und Repräsentationsfragen. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass vor einigen Monaten Stefanie Lohaus, eine Mitbegründerin des Missy-Magazins, gesagt hat, die Bundeswehr müsse jetzt weiblicher werden. Ein solcher Anspruch läuft unter dem Schlagwort Feminationalismus: Selbst die Körper von queeren und weiblichen Menschen sollen nun – im Namen eines vermeintlichen Fortschritts – in den Dienst staatlicher Gewalt eingespannt werden. Die feministische Friedensforschung zeigt aber: Es gibt keinen feministischen Krieg und keine feministische Militarisierung.

Wozu führt solch ein Schulterschluss zwischen linksliberalen und autoritären Akteuren?

Unter dem Vorwand, Demokratie und feministische Werte nach außen zu verteidigen, werden im Innern genau jene demokratischen Grundrechte und sozialen Errungenschaften ausgehöhlt, ohne großen politischen Widerspruch. Ein Beispiel dafür ist, dass trans Frauen und nichtbinäre Personen als angebliche „Männer“ im Notfall zum Wehrdienst verpflichtet werden sollen. Oder, besonders exemplarisch und absurd zugleich: Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, reagierte kürzlich bei einem Auftritt in Finnland auf palästinasolidarischen Protest mit der Bemerkung, die Protestierenden könnten ja froh sein, nicht in Russland zu leben, wo man sie dafür direkt verhaften würde. Während gerade hierzulande der Protest gegen den Genozid in Gaza seit Monaten mit Verhaftungen, Verboten und massiver Polizeigewalt unterdrückt wird. Und das trotz internationaler Kritik.

Was wäre Ihre Prognose für die Zukunft?

Die sieht einerseits düster aus. Zuletzt hat die Polizei in Köln versucht, das antimilitaristische Camp des Bündnisses „Rheinmetall entwaffnen“ zu verbieten. Eine Protestparade wurde mit massiver Gewalt und einem stundenlangen Polizeikessel aufgehalten.Militarisierung bedeutet immer, dass Grundrechte wie das Demonstrationsrecht zur Verhandlung stehen. Gleichzeitig zeigt die breite, öffentliche Solidarisierung mit dem Camp, dass die antimilitaristische Bewegung in Deutschland wächst.

Gibt es für Sie dennoch eine Antwort auf diese Entwicklungen?

Wir müssen uns klarmachen: Krieg bedeutet die Entscheidung über Leben und Tod. Und bei dieser Entscheidung haben wir jedes Recht, mitzureden. Denn wir sitzen nicht alle im selben Boot. Es sind immer die Verletzlichsten, die Ärmsten, die Marginalisierten, die in Kriegen geopfert werden. Unsere Antwort muss Protest auf allen Ebenen sein: boykottieren, verweigern, stören. Organisiert in unseren Vierteln, spürbar in den Betrieben, sichtbar auf der Straße. Ohne uns gibt es keine Rüstung, keine Kriegsmaschinerie. Was wir verteidigen müssen, ist das Leben selbst.

Şeyda Kurt ist Autorin zweier Sachbuchbestseller, in denen sie das Spannungsfeld von Gefühlen, Unterdrückung und politischem Widerstand ergründet. Als Redakteurin hat sie an dem Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ mitgewirkt, der mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.

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