Sexarbeiterinnen jenseits ihren Beruf: Zwischen Sinnstiftung und Ausbeutung

Pastorello arbeitet als Sexarbeiterin. In Berlin kann sie ihrer Arbeit nachgehen. ohne strafrechtliche Folgen zu fürchten. „Männer zum Orgasmus zu bringen, gibt mir ein Gefühl von tiefer Erfüllung“, sagt die Sexarbeiterin, die nur ihren Künstlernamen nennt. „Es gibt mir ein Gefühl von Macht und Spaß, weil ich mehr Freude in die Welt bringe.“

Was für Pastorello Sinn stiftet, bedeutet für viele Frauen Ausbeutung, Abhängigkeit und Krankheit. Manche wollen das Wort Sexarbeit nicht verwenden, weil der Begriff suggeriere, dass es sich um eine Arbeit wie jede andere handele. Aber genau diese Fragen sind es, welche die Branche, Politiker und Sozialarbeiter polarisieren: Kann ein Mensch (meistens eine Frau) selbstbestimmt seinen Körper verkaufen? Müssen Frauen vor sich selbst geschützt werden? Sollte der Staat Prostitution verbieten? Oder erlauben? Und unter welchen Bedingungen?

Ballett und Choreographie als Leidenschaft

Wenn man die siebenunddreißig Jahre alte Pastorello fragt, ob Sexarbeit schon immer ihr Traumberuf war, fängt sie zu lachen an. „Nein“, sagt sie, „überhaupt nicht.“ Mit sieben Jahren besuchte sie ihre erste Ballettaufführung. Sie war sofort begeistert: „Ich habe mich in Ballett als Kunstform, als Medium verliebt. Ich liebe die Musik. Ich liebe die Ästhetik.“ Später studierte sie in Boston Balletttanz und Choreographie. Die Auftritte, das Training, das Studium: All das habe sie an ihre Grenzen gebracht – und darüber hinaus. Nach Verletzungen ihrer Bänder und Knochenproblemen rieten ihr Ärzte, sich einen neuen Beruf zu suchen.

Einst arbeitete Pastorello als Choreographin, doch der Körper spielte nicht mit.Andreas Pein

Sechzehn Jahre lang hoffte sie, von ihrer Leidenschaft leben zu können. Sechzehn Jahre voller Blut, Schweiß und Tränen, wie sie heute sagt. Sie war psychisch am Boden und konnte ihre Rechnungen nicht mehr zahlen. Dann schlug ihr eine Freundin vor, als Sexarbeiterin zu arbeiten. „Ich war zunächst etwas unsicher. Aber als ich damit angefangen habe, wurde mir klar, dass ich hier eigentlich all meine Fähigkeiten unterbringen kann.“

Die Beziehung, die sie als Balletttänzerin zum Publikum hatte, habe sich ähnlich angefühlt wie das, was sie nun tue. Es sei für sie wie eine Aufführung: „Ich beherrsche die Situation und meinen Körper zu hundert Prozent. Ich gebe alles, und am Ende gehen die Leute mit einem Lächeln nach Hause.“

Versteckspiel vor der Polizei

Allerdings habe die rechtliche Situation ihre Lage erschwert. Im Vergleich zu Deutschland habe sie in ihrer Heimat fast das Doppelte verdient. Das große Aber dahinter: Wegen der Illegalität komme kaum eine Sexarbeiterin ohne Anwalt aus – und das verschlinge einen Großteil des Lohns. Das Versteckspiel vor der Polizei sei die größte Belastung gewesen – und nicht die Arbeit als solche.

Kunden konnten sie über eine Website buchen, Treffen fanden meist bei ihr statt. „Ich musste aufpassen, beim Sex nicht zu laut zu sein“, sagt Pastorello, die heute über diese Zeit lachen kann. Nachbarn hätten sonst die Polizei rufen können. Irgendwann hielt sie das Versteckspiel nicht mehr aus. Ihr Anwalt empfahl ihr, nach Deutschland zu gehen. Das war Anfang 2020.

Demonstration der Sex Worker Action Group in BerlinSex Work Action Group

In der deutschen Hauptstadt angekommen, traf sie in einem Café auf Gleichgesinnte – und konnte ohne Angst vor Stigmatisierung über ihre Arbeit reden. „Das war einfach der Wahnsinn“, sagt sie. „Jahrelang musste ich mich zurückhalten, und dann sitze ich plötzlich in einem Berliner Café und kann zusammen mit anderen über Sex quatschen.“ So viel Witz, Unterhaltung und Anregung: „Die Anspannung hat sich innerhalb von Minuten in Luft aufgelöst.“

Im Schatten der Illegalität

Auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Nur wenige Tage nachdem sie ihr Arbeitsvisum erhalten hatte, begann der Lockdown. Sexarbeit wurde verboten. „Das war ein absoluter Albtraum für mich.“ Weil sie keine andere Stelle fand, bot sie ihre Dienstleistung weiterhin an. Arbeiten im Schatten der Illegalität – fast wieder so wie in den USA.

Sie sei in all den Jahren nie von Ausbeutung betroffen gewesen, betont Pastorello. Das größte Problem sei das Verbot von Sexverkauf gewesen – und nicht die Kunden oder Zuhälter. Doch im Verlauf des Gesprächs hat sie doch Negatives zu berichten. Ausgerechnet in Deutschland geriet sie an eine Agenturleiterin, die sie ausnutzte und unter Druck setzte. Im Durchschnitt verlange ein Zuhälter dreißig bis fünfzig Prozent des Lohns für sich – was sie selbst als Ausbeutung bezeichnet.

Pastorellos Chefin nahm zunächst dreißig, dann vierzig Prozent der Einnahmen. Sie willigte trotzdem ein, weil sie Rechnungen bezahlen wollte. Aber dabei blieb es nicht: Ihre Chefin drängte sie dazu, Analsex anzubieten. Damit war für sie die Grenze erreicht: „Da war mir klar, dass ich das unter diesen Bedingungen nicht mehr machen kann und will.“ Sie wollte Anzeige erstatten – ohne Erfolg.

Selbstbestimme Sexarbeit

Nach dieser Erfahrung war ihr klar: Sie allein möchte bestimmen, wie sie arbeitet. Deswegen gründete sie mit Gleichgesinnten im Oktober vergangenen Jahres das Paramour Collective – die nach ihren Angaben erste Escort-Agentur in Deutschland, die Sex von allen Geschlechtern für alle Geschlechter anbietet. Alle Entscheidungen würden basisdemokratisch getroffen, lediglich sieben bis neunzehn Prozent des Umsatzes gingen an das Kollektiv. „Wir zeigen, dass Sexarbeit und Selbstbestimmung Hand in Hand gehen können“, sagt sie, während ihre Augen leuchten.

Fotoshooting für die Gründung der genossenschaftlichen Escort-Agentur Paramour CollectiveEmma Ball-Greene

Es gibt Frauen wie Pastorello, die in ihrem Beruf als Sexarbeiterin aufgehen. Andere Frauen werden von Kunden und Zuhältern psychisch und physisch ausgebeutet. Der deutsche Weg, mit Sexarbeit umzugehen, gilt international als eine selten liberale Lösung. Seit 2002 sind der Verkauf und der Kauf von Sex legal. Seit 2017 gilt zusätzlich das Prostitutionsschutzgesetz, das vorschreibt, regelmäßig zur Gesundheitsberatung zu gehen und die Tätigkeit anzumelden. Bordellbetreiber benötigen eine Betriebserlaubnis. Sexarbeiterinnen müssen eine Meldebescheinigung mit sich führen.

Wie viele Frauen in Deutschland wirklich in dem Beruf arbeiten, ist schwer zu beantworten – daran konnten auch die Gesetze von 2002 und 2017 nichts ändern. Schätzungen gehen von 200.000 bis 400.000 Prostituierten aus. Wohl nur ein Bruchteil hat sich registrieren lassen, sozialversicherungspflichtig arbeiteten Ende September 2022 nach offiziellen Zahlen lediglich 50 Frauen.

Neuer Schwung in der Debatte

Im vergangenen Jahr brachte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag durch ein Positionspapier neuen Schwung in die Debatte. Darin fordert sie, den Kauf von Sex unter Strafe zu stellen. Ein ähnliches Modell gibt seit 1999 in Schweden. Das zentrale Argument: Wer Frauen vor Ausbeutung schützen will, muss den Kauf von Sex verbieten. Ähnlich sieht das Johanna Seitz. Auch sie will ihren richtigen Namen nicht preisgeben – aus Angst vor Verfolgung. Ihre Geschichte ist im Gegensatz zu Pastorellos keine Freiheitserzählung, sondern eine qualvolle Abfolge von Unterdrückung.

Aufgewachsen ist Seitz in einem Kinder- und Jugendheim. Sie kam bei Pflegeeltern unter, die ihr regelmäßig Gewalt zufügten. Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag hieß es, sie solle nun selbst für sich sorgen. Sie suchte nach ihrer leiblichen Mutter. Als sie diese in Hannover gefunden hatte, fragte die Mutter ihre Tochter, ob sie sie nicht mal bei ihrer Arbeit besuchen wolle. „Ich dachte erst, sie arbeitet als Putzfrau“, sagt Seitz. Doch dann trafen sich die beiden auf dem Straßenstrich. Ihre Mutter schlug vor, dass Seitz miteinsteigen könne. Mittellos und ohne Schulabschluss willigte sie ein, weil es ihr an Alternativen mangelte.

Eingang zum Zimmer einer Prostituierten im Laufhaus Sex Inn im Frankfurter BahnhofsviertelFrank Röth

Nur drei Wochen später steckte ihre Mutter sie in das Taxi eines Marokkaners. Dieser drückte der Mutter einen Briefumschlag mit Geldscheinen in die Hand, schloss die Tür und fuhr los. Jahrelang hatte Seitz darauf gewartet, ihre leibliche Mutter kennenzulernen – kurz nach dem Wiedersehen verkauft die ihre Tochter an einen Zuhälter. „Es war einer der dunkelsten Momente in meinem Leben“, sagt Seitz, die heute zweiunddreißig Jahre alt ist. Für Sekunden herrscht Stille. Ihr Make-up verwischt. Dann redet sie weiter.

Erst Cannabis, dann Ecstasy und Koks

In den nächsten Jahren tappte Seitz von einer Zwangssituation in die nächste. Der Zuhälter aus Marokko schlug sie. Sie nahm Drogen, um die Schmerzen zu ertragen. Erst Cannabis, dann Ecstasy und Koks. Sie wurde abhängig. Als Seitz gegen ihren Zuhälter rebellierte, verkaufte der sie an eine Rockerbande. Hamburg, Stuttgart, Frankfurt: Immer wieder wurde sie weiterverkauft, immer wieder misshandelt. Besonders schmerzhaft war die Zeit mit Lover Boys – Männern, die Frauen vorgaukeln, sich in sie verliebt zu haben, um sie an Freier zu vermitteln.

Rücksichtlos waren aber auch die meisten Kunden: „Jeder Freier war eine seelische und körperliche Vergewaltigung“, sagt Seitz. Viele wollen Sex ohne Kondom, den meisten sei sie völlig egal gewesen. Keine Freunde, keine Familie, kein sozialer Anker: Ihr Leben war von Angst geprägt. Angst, mit anderen Menschen zu sprechen. Angst, von anderen in eine Schublade gesteckt zu werden. Und Angst, sich niemals aus der Fremdbestimmung zu befreien. „Ich habe jeden Abend gebetet“, sagt sie. Zehn Jahre lang. Nur durch die Drogen habe sie es ertragen können.

Erst der Höhepunkt der Gewalt markierte einen vorläufigen Wendepunkt in ihrem Leben. Als ein Zuhälter sie krankenhausreif zusammenschlug und auf der Straße liegen ließ, rief ein Passant einen Krankenwagen. Als sie in der Klinik wieder zu sich kam, wählte sie die Nummer, die auf einer Visitenkarte einer Sozialarbeiterin stand. In der Unterkunft der Organisation konnte Johanna Seitz eine Weile bleiben, wurde aber rückfällig.

Dem Suizid nahe

Im Einvernehmen mit der Organisation verließ Seitz die Unterkunft – und war wieder als Sexarbeiterin aktiv. Die Spirale aus Abhängigkeit, Gewalt und Drogen zog sie nach unten. Die Intensität der Vergewaltigungserfahrungen nahm zu. „Ich habe oft darüber nachgedacht, mir das Leben zu nehmen“, sagt sie. Wieder Stille. Doch bald sollte sich ihr Leben von Grund auf ändern. Eine Beratungsstelle in Stuttgart nahm sich Seitz an. Hier brachte sie ihre Tochter zur Welt.

Mittlerweile lebt sie mit ihrem zwei Jahre alten Kind in einer Unterkunft in Schleswig-Holstein. Sie holt ihren Schulabschluss nach, danach will sie eine Teilzeitausbildung beginnen. Seit vier Jahren nimmt sie keine Drogen mehr. „Ich bin unfassbar dankbar für die Hilfe hier“, sagt sie. Währenddessen lächelt sie – wie nur selten im Gespräch. Dann versteinert sich ihre Miene. „Ich kann es einfach nicht fassen, dass die Behörden dabei zusehen, wie Frauen jeden Tag misshandelt werden“, sagt sie.

Sexshops und andere Bordelle im Frankfurter BahnhofsviertelFrank Röth

Den Kauf von Sex unter Strafe zu stellen, hält sie für das wirksamste Mittel. Nachdem in Schweden dieses Modell eingeführt worden war, kam es zu einem Rückgang der Prostitution auf der Straße. Was Ernestine Pastorello dem entgegenhält: Wenn wir den Kauf von Sex verbieten, löst sich das Problem nicht in Luft auf. Die Ausbeutung verlagere sich von der Straße an Orte, die noch schlechter zu kontrollieren seien.

Armut statt Sexarbeit bekämpfen?

Seitz will nicht ausschließen, dass es nach einer Reform weiterhin zu Gewalt kommt. Doch der Staat müsse der Gesellschaft signalisieren, dass der Kauf eines Frauenkörpers meist mit Ausbeutung und Gewalt einhergeht. Ihre Hoffnung: Mit einer Reform wandelt sich das Frauenbild – und das könnte dazu beitragen, dass die Nachfrage sinkt. Kritiker halten entgegenhalten, es komme darauf an, Armut zu bekämpfen, statt Sexarbeit stärker zu regulieren. Denn sie sei der häufigste Grund, in die Branche zu rutschen.

Seitz lernte Sexarbeit als Unterdrückung kennen, Pastorello als Sinnstiftung. Doch so unterschiedlich sie auch sind: Mit dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 können beide wenig anfangen. Der „Hurenpass“, die Meldebescheinigung, missfällt ihnen. Pastorello meint: Viel Sexarbeiterinnen haben Angst, dass durch die Anmeldung Informationen an ihre Herkunftsländer geraten, wo Sexarbeit verboten und stigmatisiert ist. Mehr noch: Für andere sei eine Anmeldung nicht möglich, weil ihnen der Aufenthaltstitel fehle.

Auch Seitz sieht die Meldepflicht und die Bescheinigung als Stigma: „Was bringt es mir, wenn ich ein Gewerbe anmelde, ich aber aufgrund der Ausbeutung durch meinen Zuhälter nicht in der Lage bin, die Steuern zu zahlen?“ Seitz hatte 100.000 Euro Schulden, als sie Privatinsolvenz anmeldete. Der Meldepflicht gibt sie eine Mitschuld daran. Befürworter bestehender Regeln halten dem entgegen, durch gesundheitliche Beratungen und Meldepflichten kämen viele Frauen erst mit Beamten und Sozialarbeitern in Kontakt – potentiellen Ausstiegshelfern.

Keine klare politische Trennung

Bis 2025 will die Ampel das Prostituiertenschutzgesetz evaluieren und über Reformen beratschlagen. Ein Sexkaufverbot lehnen Diakonie und Sozialdienst katholischer Frauen ab – genauso wie der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen sowie Politikerinnen wie Renate Künast von den Grünen, Nicole Bauer von der FDP oder Nicole Höchst von der AfD. Für das schwedische Modell streiten die CDU-Europaabgeordnete Christine Schneider und Maria Noichl von der SPD. Die Organisation Mission Freedom, die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und die Wissenschaftlerin Elke Mack stehen auf ihrer Seite.

Was nicht nur Pastorello und Seitz, sondern auch viele andere Frauen mit unterschiedlichen Positionen eint: Sie wünschen sich mehr Ressourcen für den Kampf gegen Menschenhandel, organisierte Kriminalität und auch gegen Armut innerhalb der EU. Mehr Maßnahmen gegen die Ungleichheit der Geschlechter, eine bessere Beratung von Sexarbeiterinnen in den Kommunen, mehr Geld für aufsuchende Sozialarbeit und Aussteigerprogramme oder leichteren Kontakt zum Rest der Gesellschaft.

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