Wer ohne inneren Kohlhaas ist, werfe den ersten Stein. Gemeint ist ein Aufwallen grenzenloser Wut bei einer Lappalie. Es reicht bereits – um ausnahmsweise, hier aber nicht grundlos, mit einer Konfession zu beginnen –, dass im stinkreichen München an einem regnerischen Abend ein SUV mit Schwung (und, ja doch, Lust!) durch eine tiefe Pfütze am Straßenrand brettert und man dasteht wie ein begossener Tor. Da galoppieren sie los in der Imagination, die Mordbrennertruppen, und verwüsten die Stammburg des SUV-Junkers, ganz so, wie man das aus Heinrich von Kleists Selbstjustiz-Parabel „Michael Kohlhaas“ kennt. Erst wenn der ganze SUV-Fuhrpark in Flammen steht und der Junker um sein Leben winselt, kann man entspannen – und Großmut walten lassen. Das hat Aristoteles wenigstens so ungefähr wohl mit „Katharsis“ gemeint.
Es beginnt mit einem Wut-Dramolett
Ähnliche Kopfkino-Gedanken haben Marlene Bischof und Nicolai Zeitler nun in ihrem aus sieben Episoden bestehenden Anthologiefilm „I Am the Greatest“ eindrucksvoll in Szene gesetzt. Es beginnt gleich mit einem Wut-Dramolett nach obigem Muster: ein kleiner Rempler im Straßenverkehr, und im Angerempelten (Christian Erdt) bricht sich alle Unzufriedenheit über das eigene Zukurzgekommensein im Leben Bahn. Immer rasender und gewaltvoller werden seine Phantasien. Schließlich prügelt er – in der Vorstellung – hemmungslos auf den Rempler ein: „Du elende Ratte! Jetzt kannst du deine Austern schlürfen! Verrecke!“ Und doch ist das noch nicht das Finale, denn darin rempelt der im Kleist’schen Wutbad Gereinigte seinerseits jemanden an. Das ist klüger, als es auf den ersten Blick wirkt, steckt darin doch die Frage, welch eine cholerische Gesellschaft das ist, die reihum auf kathartischen Gewaltphantasien basiert.
Dabei geht es in „I Am the Greatest“ gar nicht nur um Aggressionen. Manche der fast immer einsamen Protagonisten wirken auch nur wie betäubt von den hier erfahrbar gemachten, auf sie einstürmenden Unsicherheiten, Ängsten oder Überforderungen. Nach außen versuchen sie die Contenance zu wahren, was unerwartete Folgen haben kann. Mark Waschke spielt mit sichtlicher Freude an der Rolle einen Macher-Manager, der sich eingeredet hat, zu wissen, wann es aufzuhören gilt, aber dann kann er im entscheidenden Moment doch nicht den Fuß vom Gas nehmen. Katharina Stark überzeugt als neurotische junge Frau beim wider Erwarten lange Zeit gut verlaufenden Date. So gehetzt die Überlegungen in ihrem Kopf kreisen („Brauche ich einen Regenschirm?“ „Mit Zunge oder ohne?“ „Soll ich jetzt schon stöhnen?“), sieht es so aus, als habe sie diesmal jemanden (Ben Felipe) erwischt, in den sie sich verlieben könnte. Trotzdem holen sie die Erinnerungen an frühere, traumatische Erlebnisse ein.
Die selbstgerechte Verachtung eines leicht überforderten, von Nicolai Zeitler selbst gespielten Vaters für all die vermeintlichen Vorzeigeeltern auf dem Spielplatz, die sogar auf die Haltung zum eigenen Kind durchzuschlagen droht, wird ebenso ungeschönt dargestellt wie die ins Hirn kriechende Panik eines am Abend allein in der Wohnung auf die Rückkehr der Mutter wartenden Mädchens oder der Umschlag der Gefühle eines alten Paares füreinander in kaum verborgenen Hass. Die Abscheu macht sich an Kleinigkeiten fest wie den Kaugeräuschen des Partners („Wie ein Schwein!“) und wird dann unbeherrschbar. Und doch sind es nicht unbedingt die Themen, die „I Am the Greatest“ auszeichnen, sondern es ist die bezwingende Form, die Bischof, Zeitler und Kamerafrau Rebecca Meining für ihre Seelenzergliederungen gefunden haben.
Tagträume und Horrorvorstellungen
Zwar gehört die Introspektion qua Selbstkommentierung der Figuren aus dem Off zum Standardrepertoire des subjektiven Films, aber hier verdichtet sich der zwischen Konfession und Obsession rotierende, ungefilterte Gedankenstrudel vor allem deshalb zur je eigenen, unentrinnbaren und alle Umwelt ausblendenden Wahrheit, weil das hohe Tempo, die narrative Zuspitzung, eine auf intime Nähe abstellende Kameraführung und der höchst elaborierte Schnitt so perfekt ineinandergreifen. Tagträume, Horrorvorstellungen und Wahrnehmungen liegen dabei alle auf derselben Ebene, sind zu einer einzigen, atemlosen Erfahrung vernäht: ein alltäglicher Kampf der emotionalen Widersprüche.
So nah kommt man dem uns alle permanent hoffen, zaudern und verurteilen lassenden Bewusstseinsstrom, der uns aber vielleicht erst zu reflektierten Lebewesen macht, wohl nur mit filmischen Mitteln, und auch nur dann, wenn man sie so souverän und glaubhaft als analytisches Instrument einzusetzen weiß wie Bischof und Zeitler. Wie viel Ironie in dem Ganzen steckt, macht schon der Titel deutlich, denn der hebt nicht nur auf eine heimliche Selbststabilisierung ab, sondern zitiert ausgerechnet Muhammad Ali, der überhaupt keinen Filter zwischen egomanen Gedanken und Äußerungen zu besitzen schien. Dabei könnte ein guter Teil unserer Unsicherheiten daher stammen, dass wir immer wieder merken, eben nicht Muhammad Ali zu sein.
I Am the Greatest von Dienstag an in der Mediathek von Arte, ab Freitag auch in der des ZDF zu sehen und läuft in der Nacht vom nächsten Montag auf Dienstag um 0.50 Uhr im ZDF.
Source: faz.net