Serhii Kalium. ist nicht jener erste „mutmaßliche Drahtzieher“ jener Nord-Stream-Anschläge

Eskortiert von Deutschlands Antiterroreinheit GSG 9 traf Serhii K. Ende November in Hamburg ein. Dort soll dem „mutmaßlichen Drahtzieher des Nordstream-Anschlags“ (Bild) der Prozess gemacht werden. Juristisch vertreten wird K. von der Berliner Anwaltskanzlei Ilona Menacker, die auf den „Beistand für ukrainische Staatsbürger“ spezialisiert ist. Erfüllt von „tiefem Verständnis für die individuellen Herausforderungen ukrainischer Mandanten in Deutschland“ legte die Kanzlei sogleich ihre Verteidigungsstrategie dar: „Unser Mandant bestreitet die ihm vorgeworfenen Taten, und wir weisen sämtliche Vorwürfe gegen ihn zurück.“

„Zum Zeitpunkt der Tat Soldat“

Sicherheitshalber will man aber versuchen, den Mandanten, der „zum Zeitpunkt der Tat Soldat in der Armee“ gewesen sei, durch die im Völkerrecht verankerte „funktionelle Immunität“ vor Bestrafung zu schützen. Hätte K. als Soldat lediglich Befehle eines militärischen Vorgesetzten ausgeführt, wäre er strafrechtlich nicht zu belangen, es sei denn, die Tat würde vom Internationalen Strafgerichtshof als besonders schweres Kriegsverbrechen eingestuft.

Die widersprüchliche Verteidigungsstrategie – einerseits zu behaupten „unser Mandant war an der Tat nicht beteiligt“, andererseits die Tat unbedingt als erlaubte Kriegshandlung von Soldaten einordnen zu wollen – zeigt schon, in welch unübersichtliches Rechtsgestrüpp der Prozess vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht führen wird. Bereits K.s italienischer Anwalt Nicola Canestrini hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen im norditalienischen San Clemente festgenommenen Mandanten vor der Auslieferung nach Deutschland zu bewahren. Mehrfach gingen die Akten zwischen den Gerichtsinstanzen hin und her.

Mit dieser Begründung lieferte die italienische Justiz den Nord-Stream-Verächtigen an Deutschland aus

Sogar der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets, intervenierte bei der italienischen Justizministerin, indem er bekräftigte, dass K. während der Tatzeit in der ukrainischen Armee gedient habe, weshalb er sich auf das Völkerrecht und das darin verankerte Konstrukt der „funktionellen Immunität“ berufen könne. Der Staatskonzern Gazprom sei ein wichtiger Teil von Wladimir Putins Kriegsmaschine, also seien auch die Gazprom-Pipelines legitime militärische Ziele.

Ein polnisches Gericht begründete die Freilassung des in der Nähe von Warschau festgenommenen ukrainischen Tauchers Wolodymyr Z., der zur Anschlags-Crew gehört haben soll, exakt mit dieser Argumentation.

Doch der Kassationsgerichtshof in Rom gab dem deutschen Auslieferungsbegehren nach langem Tauziehen statt. Denn das Gericht sah „keine Anhaltspunkte für eine funktionelle Immunität“, weil „keine ukrainische Behörde“ die Sabotage bislang offiziell „als Militäroperation“ anerkannt habe. Das aber sei die Voraussetzung. Nur Handlungen von Soldaten, die im Rahmen militärischer Operationen gegen legitime Ziele stattfinden, gelten völkerrechtlich nicht als Verbrechen. Da die ukrainische Staatsführung die Beteiligung an den Sprengstoffanschlägen stets vehement abstreitet, muss K., wenn er tatsächlich beteiligt war, als Privatmann gehandelt haben. Aber Privatleute können „funktionelle Immunität“ nicht in Anspruch nehmen.

Das bedeutet: So lange die ukrainische Armee leugnet, die Ausführung des Sprengstoffanschlags angeordnet zu haben, muss K. bei der Version bleiben, zur fraglichen Tatzeit nicht auf der Ostsee, sondern woanders gewesen zu sein. Diese widersprüchliche Doppelstrategie erweckt den Eindruck, dass hier mit juristischen Tricks ein Gerichtsverfahren sabotiert werden soll.

Dieses Bild malt das ukrainische Portal „Babel“ von Serhii K.

Unterdessen laufen die medialen und politischen Bemühungen weiter, die Attentäter zu bescheiden gebliebenen Helden umzuschreiben. Das ukrainische Nachrichtenportal Babel, das auch schon Spendengelder für die ukrainische Armee einwarb, malte im November ein rührendes Bild von dem festgesetzten K.: 1976 in eine Militärfamilie geboren, mit 15 Jahren in die Kiewer Suworow-Militärschule aufgenommen, mit 17 Ausbildung beim Inlandsgeheimdienst SBU, anschließend fünf Jahre im SBU-Hauptquartier in Kiew, befasst mit Wirtschaftskriminalität. Während der Orangenen Revolution 2004 habe K. die Stellung in einem Zelt auf dem Maidan gehalten, zehn Jahre später bei den Protesten gegen die Regierung von Wiktor Janukowytsch.

Einen Tag nach Kriegsbeginn, am 25. Februar 2022, habe er sich zum Dienst in Kiew gemeldet, die Ehefrau und die Kinder schickte er in die Westukraine, die Mutter und eines der Enkelkinder reisten nach Bukarest aus. Zunächst arbeitete K. bei der Flugabwehr, dann verteidigte er das Kiewer Militärkrankenhaus Pechers‘kyy. Im Frühjahr 2022 traf er seinen alten SBU-Mitstudenten Roman Tscherwinskyj wieder. Zusammen meldeten sie sich bei den Spezialeinsatzkräften. Im September/Oktober 2022 wurde ihre Einheit aufgelöst. Im Herbst 2023 verließ K. die Armee. Soweit die Story des Nachrichtenportals Babel.

Im Herbst 2023 geschah aber noch etwas anderes. Am 11. November enthüllten Washington Post und Spiegel gemeinsam, dass eine Gruppe von Ukrainern unter Führung des ukrainischen Geheimdienstoffiziers Roman Tscherwinskyj hinter den Nordstream-Anschlägen stecke. Der SBU-Mann gelte als „mutmaßlicher Drahtzieher“ beziehungsweise als Kommandant des Unternehmens.

Der „Geheimdienstlegende“ Roman Tscherwinskyj wurde in der Ukraine Hochverrat zur Last gelegt

Zum Zeitpunkt der Enthüllungen saß Tscherwinskyj bereits seit sieben Monaten in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe gegen ihn lauteten auf Amtsmissbrauch und Hochverrat. Der Offizier hatte im Juli 2022 einen russischen Piloten zum Überlaufen motivieren wollen, doch die eigenmächtig geplante Operation schlug fehl. Nicht der russische Pilot flog zum vereinbarten Luftwaffenstützpunkt Kanatove, sondern ein russisches Bombergeschwader nahm die Anlage plötzlich unter Feuer. Drei ukrainische Soldaten starben, 19 wurden verletzt. Tscherwinskyj hatte den Russen – ohne es zu wollen – die Koordinaten des ukrainischen Flugplatzes verraten.

Und ausgerechnet dieser Mann (FAZ: „In der Ukraine ist er eine Geheimdienstlegende“) soll wenige Wochen nach seinem tragischen Fehlschlag mit der Sprengung der Nordstream-Pipelines beauftragt worden sein? Schwer zu glauben, doch 2023/24 verbreiteten nicht nur die Washington Post und der Spiegel diese Version, etwas weiter östlich folgte man der gleichen Spur. Der nach Russland geflohene Ex-Abgeordnete des ukrainischen Parlaments Andrii Derkach veröffentlichte im Mai 2024 eine Liste mit den Namen der sechs Tatverdächtigen, die im September 2022 die Pipelines in die Luft gesprengt haben sollen. Auf Derkachs Liste findet sich neben Tscherwinskyj auch der Name Serhii K.s. Ersterer soll der Leiter der Geheimoperation gewesen sein.

Die „FAZ“ besuchte Tscherwinskyj im ukrainischen Hausarrest

Als Tscherwinskyj gegen Zahlung einer Kaution von 200.000 Dollar aus der U-Haft in den Hausarrest entlassen wurde (die Kaution bezahlte übrigens Ex-Präsident Petro Poroschenko), besuchte ihn die FAZ zuhause, um ihm vielleicht doch ein Geständnis zu entlocken. Doch Tscherwinskyj begnügte (und vergnügte) sich mit dunklen Andeutungen, schimpfte auf Präsident Wolodymyr Selenskyj und dessen damaligen Büroleiter Andrij Jermak und genoss ansonsten das weltweite Interesse an seiner Person. Heute ist dieser „mutmaßliche Drahtzieher“ wieder vergessen. Serhii K., sein gleichaltriger Ex-Kommilitone während ihrer gemeinsamen Zeit bei der Geheimdienstausbildung, ist an seine Stelle getreten. Die deutsche Bundesanwaltschaft hält ihn für den Anführer der Segelcrew.

Erfahren wird die Öffentlichkeit über den Stand der Ermittlungen jedoch fast nichts. Denn so lange ermittelt wird (es gibt noch vier, fünf weitere, bislang nicht festgenommene Tatverdächtige), kann die Bundesregierung bequem alle Kleinen Anfragen von neugierigen Bundestagsabgeordneten mit dem Satz abbürsten, „dass hier der Informationsanspruch des Deutschen Bundestages und einzelner Abgeordneter hinter dem Geheimhaltungsinteresse zum Schutz der laufenden Ermittlungen zurücktreten muss“. So lange Regierung und Bundesanwaltschaft ihre Karten nicht auf den Tisch legen müssen, so lange können immer neue „mutmaßliche Drahtzieher“ durch die Medien geistern.

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