Wolodymyr Selenskyj gibt es zweimal: einen soliden Politiker für Wirkung in der Welt – und einen brachialen für den kleinen Kreis der Macht in Kiew. Einer erinnert an den angesehenen Dr. Jekyll, der andere eher an den monströsen Mister Hyde aus der Erzählung des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson Der seltsame Fall des Dr. Jekyll and Mr. Hyde.
Der Selenskyj für die Welt hatte sich jüngst im Fernsehen an seine Landsleute gewandt und zu Trumps 28-Punkte-Friedensplan Stellung genommen. Da gab er den Staatsmann: „Jetzt ist einer der härtesten Moment in unserer Geschichte“. Die Ukraine stünde vor der „sehr harten Wahl“, entweder ihre „Würde“ oder „einen Schlüsselpartner zu verlieren“ – gemeint waren die USA. Deshalb, so Selensky, brauche die Ukraine „Einheit mehr als je“.
Und dann gibt es einen anderen Selenskyj, den am Abend zuvor Mitglieder der Fraktion der Präsidenten-Partei „Diener des Volkes“ im Parlament, der Werchowna Rada, erlebten. Dort stand ein Mann vor ihnen, der auf die Frage, wie es möglich war, dass ein Krimineller wie Timur Minditsch auf mehrere Minister Einfluss nehmen konnte, antwortete: „Ich weiß es nicht“. Und der dafür Kopfschütteln und Gelächter erntete. So schildern es Abgeordnete der für investigative Recherchen bekannten Kiewer Internet-Zeitung Ukrainska Prawda. Vor den Abgeordneten stand ein Politiker, der sich gemeinsam mit seinem Stabschef Andrij Jermak an die Macht klammerte.
Kein Rezept gegen die grassierende Korruption
Die Abgeordneten hatten zuvor diskutiert, Selensky vorzuschlagen, Jermak abzusetzen, der enge Verbindungen zu Minditsch und den wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetretenen Ministern gepflegt hatte. Doch Selensky hatte bereits vor dem Treffen mit der Fraktion erkennen lassen, dass er an Jermak festhält. Mehr noch – dass er ihn noch mehr aufwertet. Der Präsident ernannte Jermak zum Bevollmächtigten für die Verhandlungen über Frieden.
Bei der Beratung mit Selensky, so die Ukrainska Prawda und die Wochenzeitung Serkalo Nedeli übereinstimmend, traute sich dabei keiner der „Diener des Volkes“, dem Staatschef zu widersprechen. Um die Abgeordneten einzuschüchtern, so Ukrainska Prawda, habe Jermak zuvor noch versucht, dem widerspenstigen Fraktionschef mithilfe der Geheimdienste „Staatsverrat“ vorzuwerfen. Doch dafür wollte sich nicht einmal der als Hardliner bekannte Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU Wassili Maljuk einspannen lassen.
Selenskyj hat dem Wesen nach einen privatisierten Staat geschaffen, indem er Jermak, Minditsch und Co. mit unbegrenzten Vollmachten ausstattete
Dennoch hatte der psychologische Druck Jermaks auf die Fraktion der Regierungspartei Folgen. Die Mitglieder der Fraktion von „Diener des Volkes“ hätten ihre „seit langem gebeugten Rücken gebeugt gelassen“ während der Sitzung mit Selenksyj, urteilte die Redakteurin Inna Wedernikowa von der renommierten Wochenzeitung Serkalo Nedeli. Selenskyj, so die seit Jahrzehnten erfahrene Journalistin, habe „dem Wesen nach einen privatisierten Staat geschaffen“, indem er „Jermak, Minditsch und Co. mit unbegrenzten Vollmachten ausstattete und damit die Verfassungsbalance zerbrochen hat“.
Selenskyj sei innerhalb von sieben Jahren „zu einem korrumpierten autoritären Führer“ geworden, der sich weigere, „in einem kritischen Moment das System zu reinigen“ – gemeint ist Korruption. Dazu bringt Serkalo Nedeli nach Hintergrundgesprächen mit Mitarbeitern der Antikorruptionsbehörde bislang unbekannte Details. Danach verdächtigen die Ermittler Selenskyjs Adlatus Jermak intensiver Verbindungen mit dem flüchtigen Selenskyj-Freund Minditsch.
Intern nennen die Ermittler Jermak auch „Ali Baba“ – weil sie ihm zutrauen, vierzig Räuber zu führen. Die anonym zitierten Ermittler widersprechen auch einer öffentlichen Behauptung Selenskyjs, er habe nach dem Beginn der Ermittlungen gegen Minditsch nicht mehr mit ihm gesprochen. Die Fahnder, die Minditschs Gespräche abhörten, protokollierten seit Juni drei weitere Telefonate von ihm mit dem Präsidenten. Dabei habe Selenskyj seinen Freund, der sich damals im Ausland aufhielt, gebeten, nicht wieder zurückzukommen – was den Verdacht auf Verdunklung krimineller Machenschaften weckt.
Selbst bei seiner staatsmännischen Inszenierung zum Friedensplan Trumps brach bei Selenskyj einen Moment jener Jargon durch, der für das „Banditenmilieu“ der Ukraine charakteristisch ist, zu dem Selenskys Freund Minditsch gehört. Der Präsident sagte, die Ukrainer müssten „aufhören mit dem einander Anscheißen“. Da verwandelte sich für einen kurzen Moment vor den Kameras Doktor Jekyll in Mister Hyde.
Die Stimmung in der Ukraine in dieser Lage beschreibt Serkalo Nedeli mit den Worten „Erschöpfung, Apathie, Enttäuschung“. Das Blatt zitiert einen Abgeordneten der Regierungspartei, jetzt beginne „eine stille Sabotage des gesamten Systems der Macht“. Im politischen System der Ukraine, so der Parlamentarier, sei „jetzt die Stoppuhr eingeschaltet“.
Das Wochenblatt bilanziert, mitten in der Korruptionskrise habe Trumps Friedensplan „die Ukraine in den Schrecken getrieben“. Damit sei „der Fokus verändert worden“ und das Korruptionsproblem werde verdrängt. Selensky nutze Jermak jetzt für die Verhandlungen und dulde dagegen keine Einwände.
Die Ukraine verliert ihren grundlegenden strategischen Partner
Ebenfalls in Serkalo Nedeli kommentiert der frühere Botschafter der Ukraine in den USA, Oleg Schamschur, die Trumpschen Vorschläge mit kaum verhohlenem Entsetzen. „Die Ukraine verliert ihren grundlegenden strategischen Partner“, lautet die Bilanz des Diplomaten, der vor zwanzig Jahren kurzzeitig auch stellvertretender Außenminister war. Schamschur moniert die nur vagen „Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine in Trumps Vorschlag.
Als besonders schmerzhaft bewertet er außerdem den Vorschlag der US-Amerikaner, die Ukraine solle ihre Truppen aus dem noch von ihr kontrollierten Teil des Donbasses abziehen und dort der Schaffung einer neutralen, demilitarisierten Pufferzone zustimmen. Schamschur befürchtet, eine solche Zone würde sehr schnell zu einem Raum werden, den Russlands Militär „für weitere Angriffsoperationen in Richtung Kiew nutzen werde“.
Die ukrainische Führung hat keine Strategie – und ihre Ausgangsbasis wird immer schlechter
Auffällig ist, dass der erfahrene Diplomat – wie auch andere ukrainische Strategen – kein Verhandlungskonzept vorschlägt, mit dem sich die Ukraine realpolitisch mit dem russischen Gegner verständigen könnte.
Die tiefere Ursache dafür ist das Fehlen einer staatspolitischen Erfahrung und außenpolitischen Tradition in der Ukraine. Wer im Spätherbst 2025 in Kiew nach strategischen Debatten und einer strategischen Kultur fragt, stößt in tiefen Nebel. Forderungen nach Außengrenzen, welche die Ukraine schon seit 2014 nicht mehr kontrolliert, ersetzen jeden pragmatischen Zugang in der schwierigen Lage.
Ein weiteres auffälliges Moment ist das Schweigen ukrainischer Medien zu der angekündigten Auslieferung des ukrainischen Staatsbürgers Sergej K. aus Italien nach Deutschland. K., der im August in Italien festgenommen wurde, wird von Ermittlern in Deutschland dringend verdächtigt, den Terroranschlag auf die Gaspipeline Nordstream in der Ostsee bei Bornholm im September koordiniert zu haben.
Der damalige ukrainische Armeechef Walerij Saluschny steht außerdem in Verdacht, führend in die Planung des terroristischen Anschlages verwickelt gewesen zu sein. Derzeit genießt der für sein schwaches Englisch bekannte Saluschny diplomatische Immunität als Botschafter der Ukraine in London.
Ist Trumps Vorschlag eine Kapitulation – oder eine realistische Basis für Gespräche?
Ukrainische Debattenteilnehmer neigen generell dazu, die Gespräche über Frieden losgelöst von der Kriegslage zu führen. In der ukrainischen Diskussion dominiert die Wahrnehmung, Trumps Vorschläge liefen auf eine „Kapitulation“ hinaus. Doch dabei sieht der Plan vor, 80 Prozent des von Kiew beanspruchten Staatsgebietes vor dem Zugriff von Russland zu bewahren. Dem Land sollen Streitkräfte in dreifacher Stärke der Bundeswehr garantiert werden.
Das eigentliche Dilemma des gegenwärtigen Verhandlungsprozesses wird derzeit in der Ukraine in sowjetischer Tradition eher an Küchentischen als in Medien diskutiert: Je länger die ukrainische Politik an unrealistischen Forderungen wie den Grenzen von 1991 festhält, desto mehr verschlechtert sich die Position des Landes angesichts des ungebremsten Vormarsches der russischen Truppen.
Und je später die Ukraine einer Regelung zum Kriegsende zustimmt, desto ungünstiger wird sie ausfallen. Auch wenn verzweifelte Prediger in Berlin und Brüssel den Ukrainern das Gegenteil suggerieren.