Ein langer Zug Traktoren zieht durch die Innenstadt von Wismar, geschmückt mit Maispflanzen und Kürbissen. Viele gut erhaltene DDR-Fabrikate sind darunter, etwa der Trecker ZT 300 vom „Kombinat Fortschritt“. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig von der SPD begrüßt jeden Landwirt persönlich, verteilt Bonbons an die Kinder und preist in ihrer anschließenden Rede die Bauern, die jeden Tag arbeiteten, auch im Sommer, „wenn wir anderen an unserer schönen Ostsee liegen“. Es gibt Blasmusik und Wurstbrötchen. Ein mecklenburgisches Idyll. Wäre die Stimmung unter den Zuschauern nur eine andere.
Ein Mann, der mit seiner Frau am Rande steht und Schwesig zuhört, sagt: Er wähle seit Jahren die AfD. Beide, erzählen sie, arbeiten Vollzeit, können sich aber nur noch wenig leisten, auch keinen Urlaub mehr. Gleichzeitig, sagt der Mann, pulvere Deutschland Geld ins Ausland, für Fahrradwege in Peru und für die Ukraine, die doch nicht unser Problem sei.
So wütend wie er sind viele Leute auf dem Wismarer Marktplatz, aber auch anderswo im Nordosten der Republik. Über die Ukraine- und Flüchtlingspolitik, aber auch ganz grundsätzlich darüber, nicht mehr gehört zu werden. Entladen könnte sich diese Wut bei der Landtagswahl im kommenden Jahr. Die SPD regiert in Mecklenburg-Vorpommern seit 1998; bei der Landtagswahl 2021 holte sie unter Schwesig fast 40 Prozent. Doch aktuelle Umfragen sehen die Partei nur noch bei 18 Prozent, die CDU sogar nur bei 13 – und die AfD bei 38.
Am Morgen vor der Erntedankfeier nimmt Schwesig am Gottesdienst in der Nikolaikirche in Wismar teil. Ein prächtiges Gotteshaus, lichtdurchflutet und aus Backstein, mit einem 37 Meter hohen Mittelschiff. Schwesig sitzt vorne. Dort ist die große Erntekrone aus Getreideähren aufgebaut. Die wird im Anschluss an einem Traktor aufgehängt und durch die Stadt gefahren. Die Landfrauen haben sie geflochten, das ist der Verband der Bäuerinnen im Land. Später wird Schwesig die Erntekrone mit in ihre Staatskanzlei nach Schwerin nehmen.
Drei der Landfrauen stehen nach dem Umzug auf dem Marktplatz. Auch sie sind wütend. Sie sei keine AfD-Wählerin, sagt eine der drei. Aber der Erfolg der Partei habe seine Gründe. Derzeit werde unterschieden zwischen „guten und schlechten Demokraten“. Es gebe „Diskussionsverbote“, es werde ausgegrenzt. Die Brandmauer zur AfD hätte man nie ziehen dürfen. Meinungsverschiedenheiten müsse man aushalten. Natürlich seien die Menschen unzufrieden wegen der Ukrainepolitik und wegen der Migration. „Aber das geht noch viel tiefer. Viele Leute fühlen sich nicht mehr wahrgenommen in ihrer Position.“ Sie gehe davon aus, dass die AfD im kommenden Jahr sogar noch stärker abschneiden werde als derzeit in den Umfragen.
Viele wünschen sich wieder bessere Beziehungen zu Russland
Schwesig war einst eine der Hoffnungsträgerinnen der SPD. 2003 trat die heute Einundfünfzigjährige der Partei bei, stieg dann rasch auf. 2008 wurde sie Sozialministerin im Kabinett ihres Vorgängers und politischen Ziehvaters Erwin Sellering, zwischenzeitlich war sie Bundesfamilienministerin. 2017 dann löste sie Sellering als Ministerpräsidentin ab. Von ihm übernahm sie die große Nähe zu Russland. Gegen alle Widerstände stampfte das Land die Klimastiftung aus dem Boden, die nur vordergründig dem Schutz der Umwelt diente, eigentlich aber half, mit Geld aus Moskau die Pipeline Nord Stream 2 fertigzustellen. Schwesig brauchte bis nach Beginn von Russlands Angriffskrieg, um das als Fehler zu bezeichnen. Heute unterstützt sie die Ukraine.
In ihrem eigenen Land haben viele diesen Schwenk nicht mitgemacht. All die Ungereimtheiten rings um die Stiftung, die derzeit ein Untersuchungsausschuss aufzuarbeiten versucht, interessieren außerhalb des Landtags kaum mehr jemanden. Viele wünschen sich stattdessen wieder bessere Beziehungen zu Russland. Und die einzige Partei, die sich klar prorussisch positioniert, als vermeintliche „Friedenspartei“, ist die AfD.
Wie gut das ankommt in Mecklenburg-Vorpommern, lässt sich zum Beispiel am Ostseeufer in Stralsund beobachten. An einem sonnigen Herbsttag sitzt dort ein Paar, neben ihnen steht ein großer Eimer, in dem haufenweise Barsche glänzen. Die Barsche beißen hervorragend an, immer wieder zuckt die Angel. Und trotzdem schimpfen die beiden. Die Ukraine sei ein „Fass ohne Boden“, sagt der Mann. Die Flüchtlinge kassierten nur das Bürgergeld, hätten aber nie eingezahlt, sagt die Frau. „Die machen alles kaputt.“ Für die eigenen Kinder sei kein Geld da, und auf spezielle Arzttermine warte man ein halbes Jahr. Dazu die wahnsinnigen Teuerungen. Sie schimpfen über Bundeskanzler Friedrich Merz, auch über Schwesig. Die sei ja mal ganz gut gewesen, sagt der Mann, aber jetzt mache sie das Gegenteil von dem, was sie einst gesagt habe.
Auch Schwesig ist an diesem Tag in Stralsund, zusammen mit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU. Die hatte hier mehr als 30 Jahre lang ihren Wahlkreis. In dem holte sie von 1990 bis 2021 das Direktmandat, teils mit Erststimmenergebnissen von 56 Prozent. Damals hieß es stets, man könne hier einen schwarzen Besenstiel aufstellen, selbst der werde gewählt.
Jetzt ist von blauen Besenstielen die Rede – Blau ist die Farbe der AfD. Deren Vertreter holte bei der Bundestagswahl im Wahlkreis 37,3 Prozent der Erststimmen. Dass die CDU nun im Nordosten nicht mehr weit weg ist von der Einstelligkeit, dafür machen in Merkels eigenem Landesverband viele die frühere Bundeskanzlerin mitverantwortlich.
Vor dem Stralsunder Rathaus demonstrieren AfD-Anhänger
An diesem Tag aber gibt man sich versöhnlich. Beim Festakt in einer Kirche zur Wiedereröffnung des örtlichen Meeresmuseums sind neben Merkel auch die Spitzen der örtlichen CDU zugegen, etwa Landeschef Daniel Peters. Der verneigt sich sogar leicht, als er Merkel begrüßt. Die geht später neben Schwesig durch das wieder eröffnete Museum und füttert eine Schildkröte. Dass die bereits seit 1986 Teil des Museums ist, veranlasst Merkel zu der Bemerkung, die Schildkröte kenne ja noch die DDR.
Später überreicht Schwesig Merkel im Stralsunder Rathaus den Landesverdienstorden. Es ist die höchste Auszeichnung Mecklenburg-Vorpommerns. Draußen vor den Fenstern haben sich einige Dutzend AfD-Anhänger versammelt – Familien, aber auch Jugendliche in Springerstiefeln. Sie trommeln laut und skandieren „kein Orden für Angela Merkel“. Der Lärm ist auch durch die geschlossenen Fenster im Rathaus zu hören. Dort würdigt Schwesig die frühere Bundeskanzlerin als „herausragende Persönlichkeit“, „große Staatsfrau“ sowie „prägende Politikerin unserer Zeit“, die als Verbündete „unschätzbar wertvoll“ und als Gegnerin „kaum zu überwinden“ gewesen sei – „ein echter Glücksfall für unser Land“. Angesichts der politischen Stimmung im Land wirkt die Rede regelrecht trotzig.
Merkel sagt in ihrer Dankesrede, 35 Jahre nach der Deutschen Einheit sei zu konstatieren, dass ihre politische Generation viel geschafft habe. Aber die Arbeit sei alles andere als beendet. „Ich glaube, wir sollten den Mut haben, den Blick darauf zu lenken, was damals einer ganzen Generation abverlangt wurde.“ Auf jene, die damals Existenzängste gehabt hätten, die große Unsicherheiten durchgemacht hätten. Die AfD nennt Merkel nicht namentlich, geht aber doch auf sie ein, indem sie sagt, es gelte jenen entgegenzutreten, die versuchten, den Spruch „Wir sind das Volk“ zu nutzen, um auszusortieren, wer zum Volk gehöre und wer nicht. Es gelte dafür zu kämpfen, dass alle deutschen Staatsbürger das Volk seien.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es auf kommunaler Ebene vielerorts längst keine „Brandmauer“ mehr zwischen CDU und AfD. In Stadtparlamenten wird immer wieder AfD-Anträgen zugestimmt. Die Nähe zeigt sich laut Kommunalpolitikern auch daran, wer mit wem nach den Sitzungen ein Bier trinken geht. Immer wieder gibt es Rufe danach, die „Brandmauer“ auch auf Landes- und Bundesebene zu überwinden. Am vernehmbarsten ruft danach ausgerechnet ein früherer Parteifreund Schwesigs: Stefan Kerth, Landrat des Kreises Vorpommern-Rügen, in dem Merkels früherer Wahlkreis liegt.
Zwischen Schwesig und den Menschen hat sich ein Riss aufgetan
Kerth war 2023 nach rund 20 Jahren Mitgliedschaft aus der SPD ausgetreten, aus Protest gegen die Migrationspolitik. Im Mai wurde er bei einer Stichwahl mit mehr als 75 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Kürzlich veröffentlichte er ein Video, in dem er argumentiert, die Brandmauer habe nichts gebracht, im Gegenteil. Nur durch Einbindung könne die AfD entzaubert werden, nicht durch Ausgrenzung. In anderen europäischen Staaten regierten national-konservative Parteien längst mit.
Schwesig sagt dazu im Gespräch, die AfD trage selbst die Verantwortung dafür, dass Demokraten nicht mit ihr zusammenarbeiten könnten. „Nicht wir haben die AfD in die rechte Ecke gestellt, die Partei hat sich da ganz bewusst selbst hinbewegt.“ Sie wirft der AfD vor, „Gift unter die Leute gesprüht“ zu haben.
Die Ministerpräsidentin veranstaltet regelmäßig „Bürgerforen“, bei denen sie sich den Fragen der Leute stellt. An einem sonnigen Sonntag moderiert der Leiter von Schwesigs Staatskanzlei ein solches „Bürgerforum“ in der Schweriner Fußgängerzone. „Es wird immer behauptet, man darf nicht mehr alles sagen“, sagt er. „Das gibt es bei uns nicht. Es ist alles erlaubt.“ Groß ist der Andrang dennoch nicht, rund zwei Drittel der Stühle sind frei geblieben.
Die Ministerpräsidentin trägt einen hellen Mantel mit goldenen Knöpfen und versucht, Zuversicht zu verbreiten. Auch sie sagt, dass 35 Jahre nach der deutschen Einheit viel geschafft worden sei: die Städte und Dörfer saniert, das Bruttoinlandsprodukt deutlich gestiegen, das Jahreseinkommen von rund 11.000 auf nun durchschnittlich 40.000 Euro gewachsen. „Diese Zahlen zeigen einfach, dass es bergauf gegangen ist.“
Begeisterung entfacht sie damit nicht. Nirgendwo sind die Durchschnittsgehälter so gering wie im Nordosten. Das weiß die Ministerpräsidentin auch. Sie verspricht den Leuten, sich für eine gute Rente einzusetzen. Da dürfe „auf gar keinen Fall“ gekürzt werden. Danach kommen Fragen. Statt um die Rente geht es gleich wieder um Russland: Ein junger Mann sorgt sich, dass es zum Krieg kommen könnte.
Der Konflikt werde in Mecklenburg-Vorpommern „sehr kontrovers diskutiert“, antwortet Schwesig. Gerade von Älteren erhalte sie viele Briefe, in denen Kriegsängste geschildert würden. Wichtig sei ihr vor allem, dass es wieder Räume zum Diskutieren gebe. Wer gegen Aufrüstung sei, den dürfe man nicht gleich als Putin-Versteher beschimpfen. Und wer gute Argumente für mehr Verteidigung habe, nicht gleich als Kriegstreiber. Sie selbst habe immer geglaubt, dass es wichtig sei, mit Russland im Dialog zu stehen und zusammenzuarbeiten, so Schwesig. Aber angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine sei die Zeitenwende richtig.
In solchen Momenten wird deutlich, warum Schwesig lange so gefragt war in ihrer Partei und ihrem Bundesland: Sie ist nahbar, ausgleichend, erklärt ihre Position. Aber die steht seit Beginn des russischen Angriffskriegs in starkem Kontrast zur Position vieler Bürger. Jetzt ist da ein Riss, den kein Bürgerdialog und kein Volksfest kitten kann. Am Ende bleibt Schwesig an diesem Tag in der Schweriner Fußgängerzone nur, geradezu flehentlich an die Leute zu appellieren: Bitte nicht jenen hinterherrennen, die nur sagten, was alles schlecht sei, ohne selbst Vorschläge zu machen.
Source: faz.net