Nicht weniger als 170 Vorschläge plus Untervorschläge zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in der EU hat Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank und italienische Ministerpräsident, der EU-Kommission am Montag vorgelegt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte ihn vor einem Jahr mit einem Bericht beauftragt. Der Italiener berichtete, ursprünglich hätte dieser schon im Februar fertig werden sollen. Es seien aber immer neue Aspekte hinzugekommen, deshalb habe die Veröffentlichung mehrfach verschoben werden müssen.
Draghis Diagnose
Der Italiener konstatiert eine Produktivitäts- und Investitionslücke zwischen der EU und den USA. In der EU müsse der Anteil der öffentlichen und privaten Investitionen in den kommenden Jahren um je 4,4 bis 4,7 Prozentpunkte der Wirtschaftsleistung wachsen, fordert der Italiener. Das sei mehr als das Doppelte der Hilfen aus dem Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg und entspreche jährlichen Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro. Ohne höhere Produktivität könne Europa zudem nicht „führend bei neuen Technologien, Leuchtturm der Klimaverantwortung und unabhängiger Akteur auf der Weltbühne“ sein.
Schulden als Antwort
Zur Finanzierung dieser Investitionen fordert Draghi mehr oder weniger unverblümt neue Gemeinschaftsschulden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reagierte darauf mit dem Hinweis, dass auch sie mehr Investitionsmittel für die EU für unabdingbar halte. Bis auf weiteres sieht sie aber nur zwei Wege dazu: höhere Beiträge der Mitgliedstaaten zum EU-Haushalt oder ganz neue Finanzquellen (Eigenmittel) für die EU.
Bisher gelten weitere Gemeinschaftsschulden als ausgeschlossen, weil der schuldenfinanzierte EU-Wiederaufbaufonds zeitlich befristet ist. Als zusätzlichen Schritt zur Finanzierung der Investitionen fordert der Italiener, die geplante Kapitalmarktunion möglichst zügig voranzutreiben. Sie soll es ermöglichen, dass die vielen von Draghi vorgeschlagenen Projekte auch von privaten Investoren finanziert werden.
Bürokratieabbau
13.000 Gesetzesakte hat die EU seit 2019 erlassen, verglichen mit großzügig gerechnet 5000 in den USA, stellte Draghi klar. Das belastet vor allem den Mittelstand, der nicht die Mittel hat, um die Auflagen zu erfüllen. Draghi stellt sich deshalb hinter das Ziel, 25 Prozent der Berichtspflichten zu streichen, und fordert einen eigenen Vizepräsidenten für Bürokratieabbau in der Kommission. Vor allem aber kritisiert er, dass die EU mit ihrer stark auf Vorsorge aufbauenden Regulierung Innovationen ausbremst. Das gilt gerade im Technologiesektor. Draghi nennt das neue KI-Gesetz wie auch die Datenschutzgrundverordnung als Beispiel für Gesetze, die kleine, innovative Unternehmen in Europa „umbringen“.
Wettbewerbsfähigkeit und Klima
Eine Prämisse des Draghi-Berichts war, dass er nicht am Ausstieg aus fossilen Brennstoffen rüttelt. Tatsächlich sieht er im Ausbau der erneuerbaren Energie. aber auch der Kernenergie die Lösung für ein zentrales Problem: die hohen Energiepreise. Die EU soll durch die Reform des Strommarkts sicherstellen, dass die niedrigeren Preise erneuerbarer Quellen beim Endnutzer landen und nicht der teurere Kohlestrom den Preis bestimmt.
Der Energiebinnenmarkt soll vollendet und der gemeinsame Einkauf von Gas gestärkt werden. Grüne Technologien will Draghi nach dem Vorbild des amerikanischen „Inflation Reduction Act“ (IRA) fördern, sprich nicht nur die Kapitalkosten, sondern auch die Betriebskosten. Er fordert zudem Quoten für die Produktion am Ort. Für energieintensive Branchen wie der Metallerzeugung oder der Chemie fordert Draghi einen pragmatischen Ansatz, die ihnen durch finanziellen Hilfen und mehr kostenlose Emissionsrechte ermöglicht, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten.
Automobilbranche
Die Volkswagen-Krise führt momentan den Deutschen vor Augen, wie wichtig die Automobilbranche für den Wohlstand ist. Draghi widmet der Branche, die in der EU für 14 Millionen direkte und indirekte Arbeitsplätze steht, in seinem Bericht ein eigenes Kapitel. Er fordert einen eigenen Industrieaktionsplan für die Automobilindustrie. Der soll speziell beantworten, wie die EU mit China und den USA angesichts der „erheblichen Unterstützung“ für die Branche dort mithalten kann.
Er soll ebenso sicherstellen, dass die Industrie Zugriff auf die nötigen Rohstoffe hat, wie die Voraussetzung schaffen, dass die Digitalisierung voranschreitet. Auch das umstrittene Verbot des Verbrennungsmotors 2035 greift Draghi auf. Er spricht sich dafür aus, das Verbot so schnell wie möglich zu kippen und durch einen technologieneutralen Ansatz zu ersetzen, der Platz für mit klimaneutralen E-Fuels betriebene Autos lässt.
Außenwirtschaftspolitik und Handel mit China
Draghi definiert Sicherheitspolitik als Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum. Die EU muss deshalb die Handelspolitik nutzen, um sich Zugang zu wichtigen Rohstoffen zu sichern. Sie darf nicht davor zurückstecken, Vorräte an Rohstoffen oder auch Halbleitern anzulegen. Die EU soll gegenüber China nicht grundsätzlich auf stärkere Abschottung setzen.
Draghi sieht das Dilemma, dass die Einfuhr billiger grüner Technologie der EU beim Erreichen ihrer Klimaziele hilft, auf der anderen Seite aber eine Bedrohung für die Produktion in Europa ist. Er propagiert deshalb eine „gemischte Strategie“, die nur im Einzelfall auf den Schutz der heimischen Produktion durch Zölle oder Quoten setzt. Dazu zählt Draghi die EU-Sonderzölle auf in China produzierte Elektroautos. Auch junge, innovative Industriezweige will Draghi schützen. In Feldern, in denen die EU schon lange abhängt ist, wie der Solarbranche, sieht er indes keinen Sinn darin.
Reform der Wettbewerbspolitik
Draghi will die Wettbewerbspolitik stärker als bisher in den Dienst der von ihm formulierten europäischen Agenda nehmen. Als entscheidendes Kriterium für die Beihilfenkontrolle will er nicht mehr so sehr gelten lassen, ob die nationalen Staatshilfen den Binnenmarkt verfälschen. Vielmehr sollten jene Subventionen gefördert werden, die dem Gemeinschaftsinteresse – darunter versteht er vor allem die staatliche Förderung der „Widerstandsfähigkeit“ von Unternehmen, der wirtschaftlichen Sicherheit und von Innovationen – dienen.
In eine ähnliche Richtung gehen seine Vorschläge zur Reform der Fusionskontrolle. Diese dürfe nicht mehr so „vorsichtig“ wie bisher sein und müsse sich auf die Wirkungen in der Zukunft konzentrieren. Wichtig seien ferner schnellere Entscheidungen. Indirekte Kritik äußerte Draghi daran, dass die EU-Kommission 2019 die geplante Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom verbot. Nach den damals geltenden Regeln sei die Entscheidung wohl korrekt gewesen. Die Regeln müssten aber künftig eine stärkere Berücksichtigung des Gemeinschaftsinteresses ermöglichen. Außerdem müssten die Kommissionsentscheidungen im Nachhinein regelmäßig evaluiert werden.
Neue Abstimmungsverfahren
Draghi hält die Entscheidungsprozesse der EU für zu langsam. Er schlägt vor, die qualifizierte Mehrheitsentscheidung im Ministerrat auf mehr Politikfelder auszuweiten und die Notwendigkeit einstimmiger Entscheidungen abzuschaffen. Als letztes Mittel soll es gleichgesinnten Ländern erlaubt werden, bei manchen Projekten eigene Wege zu gehen.