Schon zehn Jahre her? Wie „Serial“ irgendwas Neues erfand

Zehn Jahre „Serial“: Der Podcast-Klassiker machte True Crime populär und Podcasts zum Massenmedium. Was bleibt vom Hype? Heute sind die Mordgeschichten oft nur Grusel ohne Tiefgang. Höchste Zeit für frische Ideen


Zehn Jahre ist es her, dass Sarah Koenig für „Serial“ begann im Kriminalfall um die Highschool-Schülerin Hae Min Lee zu recherchieren

Foto: HBO


Es gibt diese Momente, in denen wird einem plötzlich klar, wie die Zeit verfliegt. Da sitzt man dann, fasst sich ans grauer werdende Haupt und kann gar nicht glauben, wie lange bestimmte Ereignisse schon her sind – und wie nah sie sich noch anfühlen. Die WM 2006 in Deutschland? Schon 18 Jahre her! Der erste Harry-Potter-Band? 27 Jahre! Sie wissen schon, was ich meine.

Wie Podcasts gehypt und der Hype auch schon wieder für beendet erklärt wurde, konnten Sie hier in dieser Kolumne mitlesen. Jetzt hat das Medium einen neuen Meilenstein erreicht: Inzwischen kann man auf die jüngere Geschichte des Podcasts blicken und sich alt fühlen. Dieser Tage ist es nämlich zehn Jahre her, dass Woche für Woche eine neue Folge der ersten Staffel des Podcasts Serial erschienen ist. Und wenn Sie jetzt sagen: „Unglaublich, wie die Zeit verfliegt“, dann geht es Ihnen wie mir.

Mir kommt es eher wie gestern vor, dass die Reporterin Sarah Koenig den Kriminalfall um die ermordete Highschool-Schülerin Hae Min Lee aus Baltimore neu aufrollte. Ihre Leitfrage war: Sitzt der Ex-Freund der Ermordeten, Adnan Syed, zu Unrecht im Gefängnis? Haben wir es hier mit einem Justizirrtum und damit großem Unrecht zu tun?

Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn man diesen Podcast als bahnbrechend bezeichnet. Das erkennt man schon daran, dass sich die Macherinnen damals für das Medium Podcast entschieden, um den Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit möglichst gering zu halten. Es kam dann genau umgekehrt: Serial machte das Medium Podcast einer breiten Masse bekannt. Seitdem ist dieser Podcast sogar in Comedy-Sendungen wie Saturday Night Live persifliert worden und eigene TV-Serien wie Only Murders in the Building haben den Hype um den Podcast aufgegriffen. Anders gesagt: Podcasts wurden durch Serial auch Popkultur.

Das hatte damals verschiedene Gründe. Der Podcast war einfach hervorragend erzählt, Sarah Koenig hat eine Podcast-Stimme etabliert, an die nur wenige Podcast-Hosts heranreichen. Die Dramaturgie der Spurensuche hat genauso Maßstäbe gesetzt wie der Soundtrack. Serial zeigte auch, wie gute journalistische Recherche funktioniert: Gründlich und unvoreingenommen – am Ende trug der Podcast dazu bei, dass das Urteil gegen Adnan Syed zwischenzeitlich fallen gelassen wurde.

Aber es gab natürlich noch einen anderen entscheidenden Grund namens True Crime. Dass echte Verbrechen die Menschen faszinieren, wissen wir in Deutschland zwar spätestens seit Aktenzeichen XY ungelöst, aber Serial hat True Crime zu einer Kunstform gemacht – und Podcasts zum dafür geeigneten Medium. Diese Kombination hat manchmal darüber hinwegsehen lassen, wie problematisch das Genre ist. Davor ist auch Serial nicht gefeit. Die Familie des Mordopfers litt unter dem neuen Hype, der durch das True-Crime-Fieber um den Podcast ausgelöst wurde (bis heute sollen die Folgen der ersten Staffel etwa 300 Millionen Mal heruntergeladen worden sein).

Und Serial blieb wahrlich kein Einzelfall. Der Erfolg sorgte vor zehn Jahren wohl dafür, dass True-Crime-Podcasts als Erfolgskonzept erkannt – und vielfach kopiert wurden. So oft, dass man von einem eigenen Genre sprechen kann. Nur ist die journalistische Qualität dabei oft verlustig gegangen. Geblieben sind häufig „Gruselgeschichten aus dem echten Leben“ und der Schauder über die „Verbrechen nebenan“. Dass es um echtes Leid geht, kommt dabei oft zu kurz. Das heißt: Serial hat dazu beigetragen, dass in der Podcast-Landschaft andauernd gemordet und sich gegruselt wird.

Nach zehn Jahren wird das ein bisschen öde. Höchste Zeit also für etwas, das so neu ist wie Serial damals. Ich jedenfalls bin bereit.

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Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen. Als Product Owner Digital überlegt er, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts.

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Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen. Als Product Owner Digital überlegt er, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts.

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