Schönheitsideal „Hot Rodent Man“: Warum Männer jetzt Nagetieren ähneln sollen

Sich im Gehen seiner Hose zu entledigen, ist knifflig. Aber Jeremy Allen White kann das: In einem viralen Unterwäsche-Werbeclip, der bei YouTube über sieben Millionen Klicks verzeichnet, tigert der Schauspieler in Zeitlupe in weißem Rippshirt und Shorts durch New Yorks Straßen. Er rennt die Stufen zu einem Skyscraper hoch, zieht sich, schwupps, das Unterhemd über den Kopf und die Shorts runter, macht Klimmzüge, bei denen er sein markengeschmücktes Package in die Kamera schwingt. Dann reckt und streckt er sich, um die ausdefinierte, halbnackte Physis schließlich auf einem (recht kurzen, White ist nur 1 Meter 70) Cordsofa zu deponieren. Tauben flattern gen Himmel, im Hintergrund leuchtet die morgendliche Hochhauskulisse. Lesley Gore singt dazu ihren weibliche Selbstermächtigung feiernden Hit von 1963: „You don’t own me“.

„Ich versuche diesen Clip zweimal am Tag anzuschauen, das ist gut für meine Mentalgesundheit“, lautet ein Kommentar darunter. Eine andere Zuschauerin nennt White einen „griechischen Gott“. Dabei gehört der Schauspieler, dessen Darstellung des Chefkochs „Carmy“ in der Erfolgsserie The Bear ihm in diesem Jahr einen Golden Globe bescherte, zu den so genannten „Hot Rodent Men“ – sexy Männer, die angeblich Nagetieren ähneln. Neben White werden für dieses über social media-Kanäle identifizierte, von den Frauen der Gen Z gefeierte Phänomen auch immer wieder Josh O’Connor und Mike Faist, die sich im Film „Challengers“ gerade ein homoerotisch durchwirktes Tennismatch liefern, zu den „Rattenmännern“ gezählt. Der über die Serie Girls bis zu Star Wars durchgereichte Adam Driver gehört dazu, Barry Keoghan aus The Banshees of Inisherin und Andrea Arnolds neuem Drama Bird. Die Genannten, da ist sich das Internet einig, teilen bestimmte physiognomische Merkmale – relativ prominente Nasen, Knopfaugen und dreieckige Gesichter. Manche verweisen zur Distinktion auf die Unterschiede zwischen dem „Rattenmann“ Johnny Depp und der angeblich klassischen „male beauty“ Brad Pitt, und diskutieren ihre Theorien heißblütig auf allen Kanälen. Sogar die New York Times hat dem so genannten Trend einen Text gewidmet.

Was die Genz Z nicht mitgeschnitten hat: Schon Al Pacino war ein Rodent Man

Dass sich die „Hot Rodent Men“ kaum vom männlichen weißen Schönheitsideal des letzten Jahrhunderts unterscheiden, hat die Gen Z in ihrer üblichen Ignoranz gegenüber den prädigitalen Epochen noch nicht mitgeschnitten. Denn auch der junge Gary Cooper, Robert de Niro mit seiner markanten Nase, Al Pacino und noch viele andere würden selbstverständlich in die Kategorie passen – wenn es eine wäre. Doch die Schönheits- beziehungsweise Attraktivitätsforschung analysiert bei Männern von jeher eine viel größere Bandbreite bei äußerlichen Merkmalen, die heteronormativ als „sexy“ wahrgenommen werden. Sonst wären unscheinbare Männer wie Humphrey Bogart nie zu Hollywoodstars aufgestiegen. Eine wichtige Rolle spielen Symmetrie und Proportionen – darum ist auch ein winziger, aber gut proportionierter griechischer Gott wie Jeremy Allen White ein Sexsymbol. Eine „große“, in Wirklichkeit immer noch normschöne Nase galt bei einem Mann also immer als anziehend (und das bereits vor dem plumpen, alten, wissenschaftlich widerlegten Johannes-Spruch).

Während viele Kulturen Frauen ebenfalls größere Nasen zugestehen, wird bei euro- und westzentrierten Stereotypen weibliche Attraktivität dagegen schon lange mit großen Augen, eher kleinem Näschen, vollen Lippen und damit dem Kindchenschema gleichgesetzt, was die tatsächliche Ähnlichkeit vor allem US-amerikanischer Schauspielerinnen erklärt. Biologistisch lässt sich der gendertypische Lookismus durch den Fortpflanzungstrieb erklären: Jüngere Frauen bedeuten Nachwuchs, bei Frauen jenseits der 50 könnte das schwieriger werden. Fair ist das nicht, doch zum Glück handeln Menschen nicht ausschließlich triebgesteuert.

Das Großartige an Jeremy Allen Whites Koch Carmy ist nicht sein Muskeltonus

Was die gar nicht so neuen „Nagetiermänner“ allerdings tatsächlich gemeinsam haben, das sind einige weiblich gelesene Merkmale: Viele tragen ihr Haar länger als bei den meisten Männern im 20. Jahrhundert üblich, nähern sich also im Erscheinungsbild Frauen an. Dazu kommen, und das ist die einzige relevante Veränderung, ambivalentere, sensiblere, geschlechtsneutrale und -bewusstere Rollenbilder. Das Großartige an Whites „Carmy“ ist schließlich nicht sein (zweifellos beeindruckender) Muskeltonus. Sondern die Grundidee von The Bear, Männer und Frauen im Umgang miteinander und mit ihren Aggressionen zu thematisieren, ohne ständig männliche Gewalt gegenüber Schwächeren zu verbildlichen. In Bird hört der zutätowierte, egoistische Barry Keughan am Ende emotionale „Dad Music“, wie seine Tochter erstaunt bemerkt. Und in Challengers, noch viel mehr in Gods own Country mit Josh O’Connor geht es um die Frage, wie eine faire Beziehung zwischen zwei (mehr oder weniger queeren) Männern aussehen kann. Wenn „hot rodent men“ also bedeutet, dass Männer auch Schwächen erleben, nutzen und (als Schauspieler) spielen dürfen, dann her mit den kleinen Nagern.

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