Die Attentäter von Sydney haben bewusst eine Chanukka-Feier angegriffen. Solche Taten vermitteln Jüdinnen und Juden weltweit: Ihr seid nicht sicher. Es wird Zeit, dass auch Nichtjuden diese Botschaft hören – und Antisemitismus ernst nehmen
Chanukka ist eine Feier jüdischer Widerstandskraft und jüdischen Überlebens – ausgerechnet
Foto: Stacey Ilyse Photography/Cavan I
Für die meisten Menschen in Deutschland dürfte es ein gewöhnlicher Sonntagmorgen gewesen sein. Man saß vielleicht beim späten Frühstück, war zu einem Ausflug aufgebrochen oder lag sogar noch im Bett, als um kurz nach halb elf die ersten Meldungen auf den Handybildschirmen auftauchten: Schüsse, Verletzte, Tote bei einer jüdischen Feier in Sydney in Australien. Für die meisten Menschen in Deutschland dürfte das eine traurige, betroffen machende Nachricht gewesen sein – aber keine, die ihre Welt auf den Kopf stellt. Sydney ist schließlich weit weg.
Für die meisten Menschen, aber eben nicht für alle. Für Jüdinnen und Juden in Deutschland und überall auf der Welt war die Nachricht eine ganz andere. Eine, die Angst oder Panik auslöst, die den Körper erzittern lässt und traumatische Bilder wachruft.
Die Aufnahmen von den Menschen, die panisch über den Bondi Beach rannten, legten sich über die Erinnerungen an die fliehenden Menschen vom Nova Festival am 7. Oktober 2023. Die Bilder der Täter, die in Seelenruhe mit automatischen Gewehren Jagd auf Menschen machten, ähnelten denen der Hamas-Terroristen.
Bondi Beach ist eine Botschaft an alle Jüdinnen und Juden
Doch es ist nicht nur der 7. Oktober, dessen Horror hier wachgerufen wurde. Sei es der Mord an zwei Israelis in Washington im Mai 2025, der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019, die Geiselnahme mit vier Toten in einem koscheren Supermarkt in Paris 2015 – antisemitische Gewalt ist immer eine Botschaftstat, die weit über den eigentlichen Tatort hinaus vermittelt: Ihr seid nicht sicher.
Nicht in Sydney, nicht in Berlin, nicht in Israel. Deswegen wählen die Mörder auch jüdische Feiertage: Jom Kippur 2019, Simchat Tora 2023, Chanukka 2025. Der psychologische Effekt ist hier besonders groß. Und deswegen ist es besonders erschütternd, dass unter den Opfern neben einem 10-jährigen Mädchen namens Matilda auch der 87-jährige Alexander Kleytman ist – ein Überlebender der Shoah.
Jüdinnen und Juden empfangen diese Botschaft, doch nicht erst seit dem 7. Oktober beklagen sie immer wieder eine gesellschaftliche Spaltung in der Wahrnehmung: Während sie unter Schock auf ihre Handys starren, dreht sich die Welt um sie herum weiter, als wäre nichts. Eine ähnliche Erfahrung machten Menschen mit Migrationshintergrund nach dem rechtsextremen Anschlag von Hanau 2020.
Chanukka ist eine Feier jüdischen Überlebens – ausgerechnet
Während deutsche Politiker:innen immer noch das „Nie wieder“ im Munde führen, ist es für die jüdische Gemeinschaft weltweit längst ein „Schon wieder“ geworden. „Schon wieder ein jüdischer Feiertag“, schrieb etwa die queer-jüdische Aktivistin Rosa Jellinek in einem Beitrag auf Instagram. „Schon wieder werden Jüdinnen*Juden ermordet. Schon wieder müssen Jüdinnen*Juden vor Mördern fliehen. Schon wieder trauern wir an einem Tag, der eigentlich Freude und Hoffnung bringen soll.“
Chanukka, das an die Wiedereinweihung des Zweiten Tempels im 2. Jahrhundert v. d. Z. erinnert, ist ein Fest jüdischer Widerstandskraft und jüdischen Überlebenswillens. Ausgerechnet.
Der Kampf gegen Antisemitismus darf nicht nur von Jüdinnen und Juden geführt werden. Es ist eine Aufgabe der Gesellschaft als Ganze, nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen. Sondern sich klarzumachen, dass es Menschen in diesem Land gibt, die von dieser Tat betroffen sind, weil sie gemeint sind. Dass Sydney nicht weit weg ist, weil auch in Deutschland erst vor wenigen Monaten drei mutmaßliche Hamas-Mitglieder verhaftet wurden, die Anschläge auf jüdische Einrichtungen geplant haben sollen.
Die Antwort auf den Hass kann im Kleinen beginnen: Jüdischen Menschen ein Zeichen geben, dass sie nicht allein sind. Dass ihr Leid, ihre Angst, ihr Schmerz gesehen werden. Und generell: Sich klarmachen, dass jüdisches Leben in Deutschland keine Angelegenheit der Vergangenheit ist. Was der Ramadan ist, das wissen inzwischen selbst viele nichtmuslimische Deutsche – zu Recht. Doch Jom Kippur, Rosh haShana, Chanukka? Auch daraus nährt sich Antisemitismus: Aus dem Nichtwissen über jüdische Kultur, das jüdische Leben selbst.
Anschlag am Bondi Beach: Das ist die globale Intifada
Nicht zuletzt ist es Zeit, endlich jüdische Ängste und Nöte ernst zu nehmen. Taten wie die von Sydney fallen nicht vom Himmel und Antisemitismus beginnt nicht erst bei der Menschenjagd mit automatischen Gewehren – genauso wenig, wie er dort endet. In Australien war die Zahl der antisemitischen Vorfälle und offenen Angriffe zuletzt stark gestiegen. Erst im Juli waren eine Synagoge und ein Restaurant in Melbourne Ziel von Attacken. Und bereits am 9. Oktober 2023 hatte eine kleine Gruppe propalästinensischer Demonstranten am Opernhaus in Sydney „Gas the Jews“ skandiert.
Auch in Deutschland nimmt der Antisemitismus rasant und drastisch zu. Und auch hier mischt sich unter den Protest gegen den Krieg in Gaza israelbezogener Antisemitismus bis hin zu direktem Judenhass. Wer das nicht sehen kann, wer vom israelbezogenen Antisemitismus nicht reden will, sollte angesichts des „Schon wieder“ sein „Nie wieder“ für sich behalten.
Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Pflicht für alle – für Jüdinnen und Juden ist er eine Frage des Überlebens. Das ist auch der Sinn der Existenz Israels, dessen Notwendigkeit als Schutzraum jüdischen Lebens dieser Anschlag unterstreicht – schon wieder. Lehren aus Sydney zu ziehen, muss also auch bedeuten, zu widersprechen.
Und zwar nicht nur, wenn der Cousin raunt, es müsse auch mal Schluss sein mit dem „Schuldkult“. Sondern auch, wenn die Genoss:innen zur „globalen Intifada“ aufrufen. Denn was die globale Intifada ist, das haben die Täter von Sydney mit Blut in den Sand von Bondi Beach geschrieben.