Die Grünen ließen sich viel Zeit, bis sie ihren wichtigsten Protagonisten im Wahlkampf am Freitagabend auf dem Parteitag in Wiesbaden auf die Bühne schickten. Viereinhalb Stunden vergingen mit Danksagungen an die bisherigen Parteivorsitzenden und gelosten Redebeträgen von meist unbekannten Delegierten, bis Robert Habeck, Kanzlerkandidat light im „Spitzenteam“ mit Annalena Baerbock, das erste Mal das Wort bekam.
Er sprach über autoritäre Regime, die meist „fossile Regime“ seien, über Angriffe auf die Demokratie und dass die FDP und Christian Lindner „raus sind aus der Regierung“, wofür es in der Halle Jubel gab. Worüber er nicht sprach, war das, wofür Habeck als Minister die vergangenen drei Jahre in der Ampelkoalition verantwortlich war: die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland.
Die ist bekanntlich schlecht, so schlecht wie in keinem anderen großen Industrieland. Vor wenigen Tagen hat der Sachverständigenrat seine Wachstumsprognose für das kommende Jahr halbiert, auf nur noch 0,4 Prozent. Es ist auch eine deutliche Korrektur von Habecks Prognose. Er hatte im Oktober noch 1,1 Prozent vorhergesagt. Die Industrieproduktion geht seit 2018 zurück, nahezu täglich kommen neue Nachrichten, welches Unternehmen wie viele Stellen abbaut. Die deutsche Wirtschaftsleistung wuchs seit 2019 real nur um 0,1 Prozent, während das amerikanische Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeit um 12 Prozent zulegte.
„Wir kämpfen dafür, dass Klimaschutz nicht rückabgewickelt wird“
Während Auswege aus der Misere auf öffentlichen Veranstaltungen von CDU und FDP das dominierende Thema sind, ist bei den Grünen dazu in Wiesbaden kaum etwas zu hören. Noch-Wirtschaftsminister Habeck erwähnte die Wirtschaft am Freitagabend nur kurz, als er sagte, wirtschaftliche Reformen dürften nicht auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden. Er schlug einen anderen Pflock ein, der in der Partei besser ankommen dürfte als der Ruf nach höheren Wachstumsraten: „Wir kämpfen dafür, dass Klimaschutz nicht rückabgewickelt wird.“
Lehren aus Amerika
Der Fokus auf die Inflation ist eine Lehre aus dem Wahlausgang in Amerika, wo das gestiegene Preisniveau bei vielen Wählern das Gefühl geprägt hat, es gehe mit ihrem Land bergab. Donald Trump hat das für sich genutzt, versprach eine Senkung der Energiekosten und steuerfreie Trinkgelder für die Beschäftigten in der Gastronomie. Die Grünen wissen: Wenn sie nicht nur ihre Kernwählerschaft im großstädtischen Akademikermilieu erreichen wollen, müssen sie sich thematisch breiter aufstellen.
Baerbock stellte die Inflation jedoch sogleich in einen Zusammenhang mit ökologischen Fragen: „Einer der großen Treiber bei den Lebensmittelpreisen ist die Klimakrise“, sagte sie. Gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten wollen die Grünen verschiedene Preisbremsen setzen: eine Verlängerung der Mietpreisbremse, eine Art Strompreisbremse durch die staatliche Subventionierung der Netzentgelte, die Verlängerung des 49-Euro-Tickets und auch einen höheren Mindestlohn.
Am Samstagabend wird der Parteitag darüber diskutieren, inwieweit „Reiche“ höhere Steuern zahlen sollen, etwa über eine Vermögensteuer. Die ursprünglich geplante Abstimmung dazu wurde wieder abgesetzt. Man hat sich darauf geeinigt, im Parteitagsbeschluss mögliche Optionen darzulegen, ohne sich auf eine Variante festzulegen. Abgestimmt werden soll aber darüber, ob die Grünen sich dem Steuerkonzept der SPD anschließen. Das sieht unter anderem einen höheren Spitzensteuersatz vor. Auch zur Zukunft der Schuldenbremse – komplett abschaffen oder reformieren – soll abgestimmt werden.