Am 12. November heißt es leicht zugespitzt: Finanzministerium gegen Finanzministerium. An besagtem Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht über den Solidaritätszuschlag. In dem Verfahren geht es um die Beschwerde von sechs FDP-Politikern gegen den Solidaritätszuschlag – zwei von ihnen, Florian Toncar und Katja Hessel, sind heute Parlamentarische Staatssekretäre im FDP-geführten Bundesministerium. Ein Dritter, Christian Dürr, ist Vorsitzender der FDP-Fraktion.
Finanzminister Christian Lindner gehört zwar selbst nicht zu den Beschwerdeführern, aber der FDP-Vorsitzende ist erklärter Soli-Gegner. In seinem nun bekanntgewordenen Grundsatzpapier, das die Ampel-Koalition vor eine Zerreißprobe stellt, macht er das einmal mehr deutlich. Lindners Ministerium wird die Sondersteuer, die Mitte der neunziger Jahre eingeführt worden ist, um die mit der Wiedervereinigung verbundenen Lasten zu finanzieren, indes in Karlsruhe verteidigen müssen. Diese Rolle in dem skurrilen Stück dürfte die beamtete Staatssekretärin Luise Hölscher übernehmen. Ob sie viel zu sagen haben wird?
„Korrektur der allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Lastenverteilung“
Gegen diese Zusatzlast wehren sich die sechs FDP-Abgeordneten – allerdings nicht auf dem üblichen Weg gegen ihren Steuerbescheid vor dem Finanzgericht, sie zogen vielmehr direkt mit einer Verfassungsbeschwerde nach Karlsruhe. Ihnen reicht es mit der unsolidarischen Sondersteuer, die explizit auf einen kleinen Kreis an Steuerpflichtigen ausgerichtet wurde. Das Nachschärfen der ohnehin progressiv ausgestalteten Einkommensteuer macht den Soli zu einer verdeckten Form der Reichensteuer, wie sie meinen. In der mündlichen Verhandlung geht es im Kern um zwei Fragenkomplexe: Erstens, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig? Zweitens, ist sie begründet?
Scholz hatte seinerzeit gegen den Rat seines Steuerabteilungsleiters entschieden, der bald darauf das Ministeriums verlassen und sich etwas später den juristischen Widerstandskämpfern anschließen sollte. In einem Musterverfahren des Bundes der Steuerzahler wehrte sich ein Ehepaar aus Bayern gegen die Festsetzung der Vorauszahlungen zum Solidaritätszuschlags für die Jahre 2020 und 2021. Nebenbei bemerkt: Als Anfang vergangenen Jahres der Bundesfinanzhof über diesen Soli-Fall zu entscheiden hatte, verzichtete das Bundesfinanzministerium darauf, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, um das geltende Recht zu verteidigen. Die Steuerrichter entschieden gleichwohl im Sinne des Fiskus.
Zurück zum aktuellen Rechtsstreit: Zwar ist die FDP seit bald drei Jahren Teil der Regierung, aber da sich die Ampelparteien nicht über die Zukunft des Steuerzuschlags verständigen konnten, überließ man seine Zukunft dem Bundesverfassungsgericht. In der Beschwerdeschrift heißt es: „Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 kann die finanzpolitische und finanzverfassungsrechtliche Sonderlage einer besonderen Aufbauhilfe zugunsten der neuen Länder als beendet betrachtet werden beziehungsweise ist die Finanzierung der Deutschen Einheit über den bundesstaatlichen Finanzausgleich abgeschlossen.“
Der Solidaritätszuschlag habe 25 Jahre nach seiner Einführung seine Aufgabe erfüllt. Seine Aufrechterhaltung mache ihn zu einem Fremdkörper innerhalb des Steuersystems. Damit nicht genug, konstatieren die Beschwerdeführer: Die fortgesetzte Belastung höherer Einkommen mit dem Zuschlag ohne legitimierenden Zweck verdeutliche, „dass inzwischen die sozialpolitische Korrektur der allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Lastenverteilung vorrangiges Ziel des Gesetzgebers ist“. Das widerspreche dem Zweck der Ergänzungsabgabe.
Erinnerung an den Nachtragshaushalt
In der Beschwerdeschrift, die die Kanzlei White & Case im Namen der sechs FDP-Abgeordneten im Sommer 2020 per Boten und vorab per Fax dem Verfassungsgericht zukommen ließ, wird an die damalige Begründung erinnert: „Zur Finanzierung der Vollendung der Einheit Deutschlands ist ein solidarisches finanzielles Opfer aller Bevölkerungsgruppen unausweichlich.“ Weiter habe es geheißen: „Der Zuschlag ohne Einkommensgrenzen belastet alle Steuerpflichtigen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit.“ Hervorgehoben wird, dass es damals um alle gegangen sei. Ausgenommen habe man nur, „Kleinbeträge“ von etwa 100 DM Solidaritätszuschlag bei Alleinstehenden und 200 DM Solidaritätszuschlag bei Verheirateten. Die 2021 sprunghaft erhöhte Freigrenze wurde mit den üblichen Tarifverschiebungen zum Ausgleich der kalten Progression angepasst. Sie beträgt nun 18.130 Euro (Einzelveranlagung) oder 36.260 (gemeinsam veranlagte Ehepaare). Bemessungsgrundlage ist nicht das Einkommen, sondern die festgesetzte Steuer. Der Freigrenze schließt sich die sogenannten Milderungszone an, in der die Belastung allmählich an die Normalbelastung herangeführt wird.
Die soziale Staffelung und die Begründungspflichten, die an eine Ergänzungsabgabe zu stellen sind, gehören zu den Punkten, die die höchsten Richter in der mündlichen Verhandlung ansprechen wollen. Was die wenigsten wissen dürften: 1968 wurde erstmals eine Ergänzungsabgabe von drei Prozent eingeführt. Zur Einkommensteuer wurde sie bis Ende 1974 erhoben, zur Körperschaftsteuer zwei Jahre länger. Sie sollte ein Gegengewicht zu der höheren Verbrauchsbesteuerung sein, hatte also durchaus eine umverteilende Komponente.
In den frühen neunziger Jahren tauchte erstmals ein Solidaritätszuschlag auf, befristet von Anfang Juli 1991 bis Ende Juni 1992. 7,5 Prozent der vom Finanzamt berechneten Einkommensteuer und Körperschaftsteuer wurden zusätzlich verlangt. Effektiv waren das 3,75 Prozent, da der höhere Satz nur für sechs Monate erhoben wurde. Damals ging es offiziell vor allem um die mit dem Golfkrieg verbundenen Lasten und weniger um die Finanzierung von Einheitskosten. 1995 lebte der Soli in alter Höhe mit doppeltem Effekt auf (da nicht nur für halbe Jahre erhoben) – dieses Mal wurde er nicht befristet. 1998 wurde der Soli-Satz auf 5,5 Prozent gesenkt. Dann passierte bekanntlich sehr lange nichts.
Normalerweise ist jeder, der sich in seinen Grundrechten verletzt sieht, gehalten, den normalen Rechtsweg zu beschreiten, bevor er sich nach Karlsruhe wendet. Die sechs Beschwerdeführer halten dem entgegen, eine sofortige Entscheidung sei in ihrem Fall wegen seiner allgemeinen Bedeutung geboten. Auch helfe die Anrufung der Finanzgerichte zur Klärung rein verfassungsrechtlicher Fragen nicht. Die höchsten Richter stehen diesen Argumenten nicht gänzlich ablehnend gegenüber, sonst würde es keine mündliche Verhandlung geben. Sie hätten kurz und knapp auf den üblichen Instanzenweg verweisen können. Das haben sie nicht getan. Sie sind offenkundig willens, sich intensiver mit der Ergänzungsabgabe zu beschäftigen.
Die einen schließen aus der tiefen Gliederung für die mündliche Verhandlungen auf ernsthafte Bedenken, die anderen sehen darin nur das ernsthafte Befassen mit einem strittigen Thema. Doch eines scheint klar: Die höchsten Richter sind offenkundig gewillt, grundsätzlich an die Aufgabe heranzugehen. Das weckt Erinnerungen an ihr Vorgehen beim umstrittenen Nachtragshaushalt 2021. Ob ihre nächste Entscheidung ähnlich verheerend für die Bundesfinanzen im Allgemeinen und Scholz im Besonderen wie beim Urteil vom vergangenen November ausfallen wird? Das ging aus Sicht des früheren Finanzministers und heutigen Bundeskanzlers bekanntlich gründlich schief.