Sachlich richtig | Deutsche Rheinfälle: Erhard Schütz liest Sachbücher über Zäsuren der Geschichte

Wenn das längst aus der Mode gekommene Bürgertum sich über Kunst informierte, dann durch die Monografien des Kritikers Julius Meier-Graefe (1867 – 1935). Durch seine zupackende Art, ohne Scheu, klare Urteile zu fällen (und gelegentlich auch zu revidieren), wurde er zum Publikumsliebling. Der akademischen Kunstkritik blieb er suspekt. Dabei war er schlagfertig, ironisch, alltagsbezogen – und ansteckend in seiner Begeisterung. Ein Gewährsmann vor allem für den französischen Impressionismus; und mit Aversionen gegen das, was danach aus Deutschland kam: den Expressionismus. Mit den meisten Künstlern war er auf vertrautem Fuße: Meisterwerklich überredete er Renoir, ihm ein seinerzeit unsigniert gestohlenes Bild nachträglich doch noch anzuerkennen – und dadurch den Besitzer reicher zu machen. In einem Ende 2022 erschienenen, ungemein sorgfältig gemachten und ausführlich kommentierten Band kann man seine quicklebendigen Texte lesen, die meist in der Frankfurter Zeitung abgedruckt worden waren. Das ist vor allem eins: zeitloser Hochgenuss!

Vom Museum Folkwang war Meier-Graefe 1929 höchst begeistert. 1923 dachte in Essen freilich keiner an Kunst, sondern an den Kampf um Erz und Kohle. Von den schier unzähligen Jahresbüchern zu 1923 kam natürlich keins ohne die Ruhrbesetzung aus, Generator der Radikalisierungen, Akkumulator der Inflation, in den Deutungen bald so umkämpft wie das besetzte Ruhrgebiet selbst. Unbedingt lohnt es sich, ein Buch zur Hand zu nehmen, das in einer Art Collage zeitgenössische Berichte und Deutungen zu einem kräftigen Mosaik zusammenfügt, wobei nicht nur ganz unterschiedliche deutsche Ansichten zu Wort kommen, sondern auch die Besatzer selbst. Hochinteressant ist beispielsweise, was da ausgiebig aus einer offiziellen französischen Broschüre zitiert wird. Wie überhaupt es sich um ein Lesebuch im besten Sinne handelt. Und wenn man nun schon mal im Revier ist, sei gleich noch ein anderer Band empfohlen, der das Bild vom Ruhrgebiet in seiner Zählebigkeit wie seinem Wandel facettiert – anhand literarischer Reportagen von Ernest Hemingway über Egon Erwin Kisch und Joseph Roth bis hin zu Max von der Grün und Urs Jaeggi.

Noch ein Jahreszahlenbuch, diesmal 1943. Das Jahr des Untergangs der 6. Armee in Stalingrad, für alle halbwegs Klarsichtigen der Anfang vom Ende des NS-Reichs. Einer, der das so sah, war Karlrobert Kreiten, hochbegabter junger Musiker, als „Wundermann am Klavier“ gefeiert. Er sagte nach dem großen alliierten Luftangriff am 2. März auf Berlin, der weit über Hunderttausend obdachlos machte, es müsse noch viel mehr solcher Bombardements geben, damit der Krieg schnell aus sei. Und Hitler und Co. gehörten einen Kopf kürzer gemacht! Seine Wirtin denunzierte ihn. Am 7. September wurde er erhängt. Die Familie bekam die Aufwendungen dafür in Rechnung gestellt. Journalist Werner Höfer, der spätere Frühschoppner, rechtfertigte in einem Artikel die Hinrichtung. Kreitens Schicksal gibt den roten Faden für die Darstellung dieses Jahres in seinem Unheil wie Heilrufen, Alltag und Abgründen, die ansonsten versiert dem Florian-Illies-Muster folgt. Es werden Stimmen choreografiert, aus Feldpostbriefen und Tagebüchern von Thomas Mann bis Viktor Klemperer, Elizabeth Arden bis Martha Liebermann.

Die Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher begannen in Nürnberg Ende November 1945 und zogen sich hin bis Oktober 1946. Aus nahezu aller Welt wurden Berichterstatter entsandt. Besonders viele und prominente aus den USA. Auch aus der Sowjetunion. Aus China oder Südamerika kamen Korrespondenten, nicht zu vergessen exilierte Deutsche. Man quartierte sie im neogotischen Schloss der Bleistiftfabrikanten Faber-Castell ein, das wie der Justizpalast, in dem die Prozesse stattfanden, die Bomben heil überstanden hatte. Bis zu zehn Personen brachte man auf Feldbetten in einem Raum unter. Bekocht wurden sie vom langjährigen Haushaltsorganisator der hitlerischen Reichskanzlei. Einige kamen auch komfortabler im Grand Hotel unter. Die Namen entstammen dem Who is Who der Edelfedern. Um nur einige zu nennen: Marlene Dietrich, Janet Flanner, Martha Gellhorn, Erika Mann, Elsa Triolet, Rebecca West, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Konstantin Fedin, Wolfgang Hildesheimer, Erich Kästner, Joseph Kessel, Robert Jungk, Boris Polevoi und Gregor von Rezzori. Wobei deutsche Journalisten, die bereits vor 1945 aktiv gewesen waren, ausgegrenzt blieben. Solch unterschiedliche Temperamente und Begabungen auf so engem Raum, teilweise über eine längere Zeit – was das an Emotionen und Strategien, Konkurrenzen, Allianzen und Aversionen auslöste! Vor allem: Wie das dort verhandelte Grauen das Schreiben beeinflusste. Dazu politische Konflikte zwischen Demokraten, Antikommunisten und Stalinisten. Fokussiert auf einzelne, exemplarische Figuren, entfaltet Uwe Neumahr hier nicht nur deren jeweiligen Hintergründe, ihren Impetus, und erzählt von heiklen Konstellationen, wie der von Erika Mann mit Kästner, den sie für einen Opportunisten hielt, oder mit ihrem Jugendfreund Wilhelm E. Süskind, der für Goebbels Renommierblatt Das Reich geschrieben hatte (und nun ein lupenreiner Demokrat sein wollte). Erzählt wird auch von der Begegnung Willy Brandts mit Markus Wolf, über dessen Spion er später demissionieren musste. Dabei entfaltet sich ein Panorama der Pressegeschichte und der intellektuellen Mentalitäten der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das ist nicht so süffig geschrieben wie Jähners Wolfszeit, aber ebenso lesenswert!

Und nun noch was für die Resilienz: Franz Hohler, aus der Schweizer Literatur der Gegenwart kaum wegzudenken, beschloss als Endsiebziger zu Pandemiezeiten, im Mai 2020, den Schweizer Rhein abzuwandern. Er lief eine weite Strecke: aufwärts, vom Rheinfall in Schaffhausen bis zur Quelle, wo er im September 2022 endlich anlangte. Das war dann längst zu Zeiten des putinschen Überfalls auf die Ukraine. Unterwegs wurde Hohler von kleinerem Unbill unterbrochen und musste längere Bus- oder Bahn-Anfahrten auf sich nehmen. Anders als die Zeiten, ist, was er erlebte, eher unspektakulär, gemächlich, alltäglich. Der Rhein mal träge, mal rauschend, mal verzweigt, mal graugrün, mal braun. Zwischen Naturschutzgebieten und Autobahn. Aber daraus – aus den Momenten und dem Erblickten, dem Erwanderten wie Erfahrenen – in trockener Ironie und lakonischer Präzision eine nach der anderen erzählerische Miniatur zu machen, das ist die wahre Kunst der Entschleunigung!

Kunst Kulissen Ketzereien. Denkwürdigkeiten eines Enthusiasten Julius Meier-Graefe Bernhard Echte (Hrsg.), Nimbus 2022, 591 S., 38 €

Ruhrbesetzung 1923. Ein Jahr spricht für sich Werner Boschmann (Hrsg.) Henselowsky u. Boschmann 2023, 207 S., 19,80 €

In Sachen Stadtschaft. Literarische Reportagen und Aufzeichnungen zum Ruhrgebiet 1923 bis 1973 Dirk Hallenberger (Hrsg.) Henselowsky u. Boschmann 2023, 165 S., 14,90 €

Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe Oliver Hilmes Siedler 2023, 304 S., 24 €

Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund Uwe Neumahr C. H. Beck 2023, 304 S., 26 €

Rheinaufwärts Franz Hohler Luchterhand 2023, 125 S., 22 €

Erhard Schütz war bis 2011 Professor für Neue Deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität. Für den Freitag schreibt er einmal im Monat die Kolumne Sachlich richtig, eine konsequent verknappte, höchst subjektive Auswahl von Sachbüchern, die man unbedingt lesen sollte

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