Sachbücher im November: Darüber hinaus hemmungslose „Gesinnungsakrobaten“ und andere Leute

Der Niedersachse Hasnain Kazim, dessen Eltern aus Pakistan kamen, fährt per Rad Elbe, Ruhr, Rhein, Oder, Neckar und Donau ab, um zu erkunden, wie man hierzulande tickt, ob besorgt wegen oder verlockt von der AfD. Dabei begegnet der Autor eigentlich nur zwei arg grenzwertigen Figuren: einer Frau mit Galgenplakat in Upahl und Erdoğan-Verehrer Ömer in Essen. Ansonsten sind es schlichtweg Leute verschiedenster Herkünfte, Berufe, unterschiedlichen Alters und Geschlechts, ganz unten oder ziemlich oben, vom Land oder aus Städten. Menschen, die sich Gedanken machen, keine abwegigen, sondern handfeste. Nicht einfältig, nicht beschränkt, die so leben möchten, wie sie denken: einfach und offen. Sie wünschen Regeln, deren Einhaltung – und Durchsetzung. Kazims Mantra: „Menschen sind verschieden.“ Das macht weder ihm noch seinen Gegenübern Angst. Angst macht ihnen zum Beispiel, wie sich die Politik vor Problemen wegduckt, wie die Medien bei der AfD nicht zwischen Partei und den sie Wählenden unterscheiden, wie Bürokratie Integration sabotiert, wie wenig mit- statt übereinander geredet wird. Letzteres zu ändern, ist ein Vorzug dieser Reise. Was das Buch aber zu einem Geschenk macht, ist, wie es Menschen und Land hoffnungsvoll sehen lässt: nicht perfekt, aber oft liebens-, jedenfalls allemal achtenswert.

Der Im- und Export von Energie, Konsum- und Kriegsgütern scheint weitgehend moraldispensierte Sphäre zu sein. In der Vergangenheit entschieden mehr als heute. Auto- und Nichtdemokraten wurden hofiert, ob Haile Selassie oder Schah Pahlavi, Franco oder Salazar – die deutschen Wirtschaftsinteressen überlagerten alle Skrupel. Selbst der Schlächter Pinochet fand einen Lobsänger. Und als der Bundestag China für seine Unterdrückung Tibets verurteilte, drückte Genscher den Chinesen flink sein tiefes Bedauern darüber aus.

Mit Hermes-Krediten und Entwicklungshilfe warb man um die Gunst von Kleptokratien und Unterdrückern. Und so vieles mehr. Frank Bösch hat eine Geschichte der Bundesrepublik entlang ihrer Deals mit Diktatoren vorgelegt, die es in sich hat. Immerhin: Seit einiger Zeit sehen zunehmend Medien und vor allem NGOs Staat und Wirtschaft auf die Finger. Auch wenn die baerbockigste Außenpolitik keine energiewirtschaftlichen Diener vor Autokraten erspart, ist immerhin die Öffentlichkeit kritischer geworden.

Im August 1929 eröffnete Albrecht Graf Montgelas den Weltreklamekongress in Berlin mit der Freude darüber, „daß noch nie ein großer Staat mit so geringen Reibungen aus einem Staatssystem in ein anderes hineinwuchs“. Und: „Für Staatsstreiche ist heute in Deutschland kein Boden.“ In Kurt Tucholskys Montagebuch Deutschland, Deutschland über alles herrschten 1929 hingegen Kapital, Militär, Spießertum und Provinz. Jens Bisky setzt im Oktober 1929 ein, mit dem Tod Gustav Stresemanns, Demokratiegarant in persona, um von hier aus den Weg in den Untergang der Republik und zum Aufgang der NS-Diktatur noch einmal zu verfolgen. Unter der Perspektive nicht des unausweichlichen Verhängnisses, sondern möglicher Überlebenschancen der Demokratie. Seine Darstellung, ohnehin ein Lesegenuss, fasziniert dabei in der fein facettierten, panoramatischen Entfaltung der Akteure wie der Ereignisse, unterfüttert mit Zeitungsartikeln wie Romanen zum Eindruck plastischer Aktualität.

Die Differenziertheit seiner Aspekte lässt sich hier nur betonen, nicht illustrieren. Nur so viel: Es konturiert sich dabei eine Unwucht zwischen den Kräften, auf die die Republik sich verlassen konnte, und denen, die sie zerstörten – die lautstarken und einflussreichen Organisationen wichtiger Gruppierungen; Bauern, Studenten, Junker, Schwerindustrie. Eine Palette zwischen Monarchisten, Völkischen, Antisemiten, Soldatischen, Nationalrevolutionären, konkurrierenden Gruppen von Konservativen – und die Nazis, von diesen getragen oder scheinbar instrumentalisiert. Ein Weg der Zersetzung gemeinverbindlicher Normen durch Aktionismus im Dienst partikularer Interessen.

Luis Trenker startete als stummer Bergfilmer, mit modernstem Mediengerät im Dienst am Archaischen, erfolgreich in Italien, Frankreich und Hollywood. Mit dem nationalistischen Tonfilm Der Rebell (1932) wurde er Oberfavorit von Goebbels und dessen „Chef“. Dann fiel er bei den beiden in Ungnade – wegen seiner folgenden Anwanzereien an den Katholizismus und dann an Mussolini, obwohl er mit Hitlers Überlassung seiner Südtiroler Heimat an Italien haderte. Nach 1945 mutierte er nachträglich zum Widerständler, war neuerlich erfolgreich mit Filmen und Büchern, jahrzehntelang als Fernsehplauderer. Ein hemmungsloser „Gesinnungsakrobat“, der nicht nur ideologisch umschaltete, sondern auch, als seine Körperkräfte nicht mehr zum jugendlichen Helden taugten, einen auf Trickster gegen die Jungen machte. Dies Bändchen liefert sehr gute Analysen dieser „transalpinen Marke“ von ehedem.

Deutschlandtour. Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält Hasnain Kazim Penguin 2024, 352 S., 25 €

Deals mit Diktatoren. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik Frank Bösch C. H. Beck 2024, 622 S., 32 €

Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934 Jens Bisky Rowohlt 2024, 640 S., 34 €

Luis Trenker Daniel Winkler, Sophia Mehrbrey (Hg.) edition text + kritik 2024, 100 S., 28 €

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