Sachbuch-Kolumne | Alles wandelt sich, nichts geht unter

Verrückt, ja,blickt man etwa auf den Irrsinn der Superjachten oder ähnliche Exzesse. Julia Friedrichs steigt zwar in ihrem Buch Crazy Rich. Die geheime Welt der Superreichen damit ein, sucht dann aber nach einer Welt dahinter. Zu einigen der deutschen Superreichen hat sie Zugang bekommen, spricht ausführlich mit ihnen. Noch ausführlicher sind ihre gründlich recherchierten Zusatzinformationen. Das ist nötig, denn ihre Gesprächspartner sind die „Normalen“ unter den Verrückten. Alle reden von der polarisierten Gesellschaft. Aber fast alle – zumal Soziologen – starren nur auf den Pool der Benachteiligten. Den der Bevorteilten kennt man kaum, außer aus Societyblättern oder Filmen. Manche der Reichen, so Julia Friedrichs, sind so, die meisten eher nicht. Man findet unter ihnen das Spektrum von boulevardesken Millionären wie „die Geissens“ bis zur entsagenden Keks-Erbin Verena Bahlsen. Man findet Protze und Verstecker, Grübler und Sonnige.

Ein Prozent der Bevölkerung hält ein Drittel des Besitzes. Von 130 Befragten waren drei Viertel Männer, drei Viertel hatten geerbt, in der Regel fungieren sie als Unternehmerinnen oder Rentiers. Interessant wird es, wenn es um deren Lebenswelt geht, um Dispositionen, Verhalten und Milieus. Man hat eigene Jachten, Flugzeuge, Hotels oder Resorts. Man hält sich für erwählt, kauft aus Furcht möglichst die Nachbarschaften auf. Und man beschäftigt eine riesige Entourage an Personal, nicht nur Bedienstete und Security, sondern auch Anwälte oder Architekten, ohnehin Berater jedweder Expertise. Die Herrschaften schaffen also Arbeitsplätze. Mit einer anderen Steuergesetzgebung käme ihr Reichtum freilich effizienter und nachhaltiger der gesamten Gesellschaft zugute …

Vom Flakhelfer, Schwarzmarkthändler, Schildermaler zum Pressezeichner, Filmjournalisten undEsskritiker. Oder wie der Sohn eines fernen Nazi-Vaters zum Stiltalent und Speisengenießer und durch beides zum kulinarischen und weltöffnenden Mittelstandserzieher wurde.

Wolfram Siebecks nachgelassene Memoiren Ohne Reue und Rezept. Mein Leben für den guten Geschmack erzählen deutsche Geschichte vom Krieg bis in die endende Hoch-Zeit der BRD mit der DDR sehr individuell fokussiert, aber gerade dadurch als lebendiges Geflecht aus vielfältigen Bezügen und Erfahrungen. Siebeck erzählt vom Einfluss der Soldatensender der Briten und Amerikaner bis zur Bedeutung von Neureichen für die Avantgardeförderung. Dazu kommt ausgiebig Anekdotisches über seine Wohnungen bis zur Münchner Kunstschickeria, sein Buch ist überhaupt ein Staffellauf an Prominenz aus Film, Presse, Kunst und Küche, in selbstironischem Duktus durchgehalten, und in alledem bleibt Siebeck ein amüsanter Anwalt von Offenheit gegenüber dem Zufall, aber streng gegen „Geschmacksingenieure“.

Es gibt gute Ratschläge, wie den, dass man als Weinliebhaber am besten einen Kombi fahren sollte, und Weistümer, dass die Menschen allein vom „Kunstfraß der Nahrungsmittelindustrie“ zu dick werden. Oder: „Der grassierende affirmative Journalismus ist ein starkes Indiz für menschliche Charakterschwäche.“ Ein großes Vergnügen von einem Charakterstarken!

Ein brisantes Thema, ein schmales Büchlein, eine luzide Darlegung. Zwischen gebieterischen Moralismen einerseits, allfälligen Verrohungen andererseits fehlt die Mitte – fehlen Höflichkeit und Takt. Gestützt auf Gewährsleute wie Ernst Bloch und Helmuth Plessner, Castiglione und Gracián, diätisch gewürzt mit Exempeln aus Politik und Medien, räsoniert Martin Scherer über Nähe und Distanz im menschlichen Umgang.

Höflichkeit, die durch die Schule des Bürgertums raffinierten Konventionen des Feudalismus ging, wäre demnach das dezent gezeigte Bewusstsein für Konventionen, Takt die wohlwollende Anerkennung von der Andersheit des Anderen. Takt bedeutet demnach auch „Kränkungsprophylaxe“ (Odo Marquard), die Verschonung des Gegenübers vor der Konfrontation mit seiner Dummheit oder Ungehobeltheit. So bleibt die Chance für beide, ihre Würde zu wahren. Takt „gründet in situativem Gespür und Geschick“, es bedarf des Taktes, dies zu lehren: „Erziehung ohne Kränkung, Demütigung und Einschüchterung“. Bleibt noch die Frage, wie taktvoll es ist, ein Buch über Takt zu verschenken. Es gelesen zu haben aber immunisiert gegen alle Trollereien dieser Welt!

Florian Klenk, Chefredakteur des Wiener Falter, hochgepriesener Reporter, hat aus der Expertise des Wiener Gerichtsmediziners Christian Reiter eine Reihe von Kapiteln zusammengestellt, die mit dem allfälligen True-Crime-Hype nichts am Hut haben. In Leben und Tod geht es tief hinab in die Geschichte der Gerichtsmedizin, zum Beispiel in die Pestgeschichte und -forschung oder zur Vampirhysterie Anfang des 18. Jahrhunderts. Um den um 1720 geborenen schwarzen „Universalgelehrten und Universaldiener“ Soliman, dessen Haut man auf ein Holzgestell zog, wie um den Kampf für dessen posthume Menschenwürde.

Stets geht es um die medizinische Aufklärung dahinter. Gelegentlich auch um forensische Obsessionen wie serienweise konservierte Penisse und deflorierte Hymen. Vor allem um Zeitnahes, um Helfer, die zu Mördern werden, oder die Obduktion eines bei der Abschiebung brutal Umgekommenen. So makaber die einzelnen Episoden, so human ist der Impetus der Darstellung. In einem Buch zuvor hatte Klenk als Vorzug des Reportierens genannt, „dass man Distanz zu sich selbst findet – und Nähe zu den anderen“. Hier kann man das nachvollziehen, ausgerechnet in der Begegnung mit dem Tod, „mit Neugier und offenen Sinnen“.

Jules Renard wusste: „Der Tod ist kein Künstler.“ Herrschsüchtige Experten schon gar nicht. Darum plädiert Lorenz Jäger für eine „Wieder-Aneignung, Neu-Aneignung der enteigneten Künste des Lebens und des Sterbens“. Der ehemaligem Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften bei der FAZ geriert sich daher nicht als Ratgeber, sondern bearbeitet ein philosophisches Brevier. „Wer die Menschen sterben lehrte, würde sie leben lehren“ – dabei ist er Montaigne so verpflichtet wie der wiederum Lukrez, in denkerischer Bedachtsamkeit, in Reverenz an all jene, die in Literatur und Philosophie über rechtes Leben und würdiges Sterben dachten, im tief gebildeten, aber nie damit protzenden Rekurs auf Ältestes wie das Gilgamesch-Epos oder das Alte Testament, auf uralt Gewordene wie ErnstJünger oder Hans-Georg Gadamer, auf zu früh Verstorbene wie Wilhelm Hauff oder Georg Büchner. Zu jung, wie Walter Benjamin oder Franz Kafka, auf reife Frauen wie Joni Mitchell oder Ulrike Edschmid, entwickelt er von Fall zu Fall seine eigenen Gedanken aus denen Vorangegangener. Entstanden ist ein wohlangelegter Lehrpfad in kluger Gelassenheit. Und dann wäre da noch Ovid: „Alles wandelt sich, nichts geht unter.“

Erhard Schütz war bis zum Jahr 2011 Professor für Neue Deutsche Literatur an der Humboldt- Universität zu Berlin. Für den Freitag schreibt er einmal im Monat die Kolumne Sachlich richtig, eine konsequent verknappte, höchst subjektive Auswahl von Sachbüchern, die man unbedingt lesen sollte

Crazy Rich. Die geheime Welt der SuperreichenJulia Friedrichs Berlin Verlag 2024, 384 S., 24 €

Ohne Reue und Rezept. Mein Leben für den guten Geschmack. Wolfram Siebeck M. e. Nachwort v. Vincent Klink, Schöffling 2024, 224 S., 26 €

Takt. Über Nähe und Distanz im menschlichen Umgang Martin Scherer zu Klampen 2024, 120 S., 14 €

Über Leben und Tod. In der Gerichtsmedizin Florian Klenk Zsolnay 2024, 192 S., 23 €

Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens Lorenz Jäger Rowohlt 2024, 272 S., 25 €

Erhard Schütz war bis zum Jahr 2011 Professor für Neue Deutsche Literatur an der Humboldt- Universität zu Berlin. Für den Freitag schreibt er einmal im Monat die Kolumne Sachlich richtig, eine konsequent verknappte, höchst subjektive Auswahl von Sachbüchern, die man unbedingt lesen sollte

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