Dieser Tage ist es wieder so weit. Im Bendlerblock in Berlin wird eine Gedenkveranstaltung zu Ehren der „Männer und Frauen des 20. Juli“ inszeniert. Das Ereignis, das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, liegt in diesem Jahr genau 80 Jahre zurück, eine besondere Würdigung durch Politik und Medien ist also zu erwarten. Es ist sehr empfehlenswert, das Buch Das deutsche Alibi der Hamburger Journalistin Ruth Hoffmann zu lesen, es war für den diesjährigen Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Der Untertitel lautet: Mythos „Stauffenberg-Attentat“. Wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird.
Ruth Hoffmann kritisiert die westdeutsche Vereinnahmung
Das Cover des Buchs ziert eine verfremdete Abbildung des berühmten Profilbildes des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Das Buch will aber offenbar weit mehr als nur die Geschichte der Erinnerungskultur rund um den 20. Juli 1944 nachzeichnen, es versucht eine kritische Reflexion des deutschen Umgangs mit der Nazi-Vergangenheit und mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu liefern – genauer gesagt, des westdeutschen, um die große Schwäche des Buchs schon einmal zu erwähnen.
In acht der zehn Kapitel zeichnet Hoffmann die verschiedenen Phasen des politischen und öffentlichen Umgangs mit den Ereignissen und Personen des 20. Juli nach und zeigt, wie sehr die Bewertung von den politischen Interessen, aber auch von den Stimmungen der jeweiligen Zeit abhängt. An der westdeutschen Vereinnahmung oder Ablehnung der Verschwörer und anderer Widerstandsgruppen lässt sie dabei kaum ein gutes Haar, wie schon die Kapitelüberschriften zeigen. Vom „großen Verdrängen“ in den ersten Jahren nach dem Krieg geht es bis zum „geplünderten Mythos“ in der Gegenwart. Dazwischen ist von der „entsorgten Vergangenheit“, der „verpassten Chance“ und dem „selbstgefälligen Schlussstrich“ die Rede. Unterbrochen wird die chronologische Darstellung von zwei Kapiteln, die die Entstehung und Entwicklung von Widerstandsbestrebungen in der Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnen. Das sind die stärksten Seiten des Buchs, auf denen packend erzählt wird, wie schwierig es ist, unter den Bedingungen einer Diktatur und eines Terrorregimes ein zuverlässiges und stabiles Netzwerk des Widerstands aufzubauen und zu unterhalten. Was man hier lernt, sollte man auch bedenken, wenn man die Chancen und Erfolge von Oppositionsbestrebungen in gegenwärtigen diktatorischen Regimen zu beurteilen versucht.
Zu kurz: Die Vereinnahmung des Antifaschismus in der DDR
Auch die übrigen Kapitel etwa der ersten Hälfte des Buchs sind nicht nur informativ, sondern auch mitreißend und berührend geschrieben. Beim Lesen lernt man viel über die Schwierigkeiten der Gesellschaft, einen Umgang mit der schrecklichen eigenen Vergangenheit, mit Schuld und Versagen zu finden. Man versteht, dass Vergangenheitsbewältigung nie losgelöst von der aktuellen gesellschaftlichen oder geopolitischen Situation gelingen kann. Man lernt aber auch, dass jeder Bericht, jede Darstellung wichtiger historischer Ereignisse immer eine Deutung aus der Perspektive der Gegenwart ist, genauer gesagt, aus der gegenwärtigen Perspektive dessen, der die Sache heute für berichtenswert hält.
Das gilt aber auch für Ruth Hoffmann selbst. Ihre engagiert-journalistische Perspektive, ihre eigenen politischen Präferenzen kann sie umso weniger zurückstellen, desto mehr sich ihr Bericht der Gegenwart nähert. Den bürgerlichen Einordnungen und Beurteilungen des Widerstands gegen das Nazi-Regime kann sie nichts Positives abgewinnen, linken Perspektiven hingegen macht sie allenfalls zum Vorwurf, dass sie sich nicht mutig und laut genug bemerkbar machen.
Schon in den ersten Kapiteln, in denen sie immer wieder auf die bekannte Tatsache hinweist, dass in der Bundesrepublik viele Menschen mit Nazi-Vergangenheit in führende Positionen in Politik, Rechtsprechung und Militär gelangt sind, fällt auf, dass sie diesen Menschen einen Wandel durch selbstkritische Reflexion offenbar nicht zutraut.
In der zweiten Hälfte verlässt das Buch leider auch sprachlich die sachliche Ebene der historischen Analyse. Von konservativen Politikern kommen die „bekannten Gedenkplattitüden“, Helmut Kohl „strickte“ an Legenden. Über fünf Seiten des Buchs kritisiert die Autorin die Kritiker und Gegner der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, um dann in einem kurzen Absatz zu berichten, dass die Ausstellung tatsächlich voller gravierender sachlicher Fehler gewesen sei. Dass die Kritiker wenigstens zum Teil richtiglagen, ist ihr leider keine Analyse wert.
Bemerkenswert ist auch, dass das Buch zwar schon im Titel den Anspruch formuliert, den deutschen Umgang mit dem Erbe des Widerstands gegen den Nationalsozialismus nachzuzeichnen, hinsichtlich der Kritik aber merkwürdig asymmetrisch bleibt. Die Vereinnahmungen des Antifaschismus in der DDR sind der Autorin nur ein paar Nebensätze wert, insgesamt dient ihr das Geschichtsbild, das im Sozialismus gezeichnet wurde, eher als Vorbild und positiver Gegenentwurf zur Geschichtspolitik der alten BRD. Dass die DDR sich und ihre Bevölkerung umstandslos und ausnahmslos zu Erben der Antifaschisten ernannte und eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe unterließ, dass die DDR sich an den Militarismus bis in die Details der Uniformen, Paraden und Fahnenappelle in den Schulen anschloss, wird nicht diskutiert. Stattdessen kritisiert die Autorin ausführlich und wiederholt die Weigerung bürgerlicher Widerstandskämpfer, mit Leuten wie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck in einem Atemzug genannt zu werden, ohne auch nur im Geringsten deren politisches Wirken kritisch zu beleuchten.
So ist Das deutsche Alibi nicht nur eine Analyse und Beschreibung der Instrumentalisierung und Vereinnahmung von historischen Ereignissen im Diskurs der jeweiligen Gegenwart, sondern eben über weite Strecken selbst auch ein Exempel, ein Teil dieses Deutungs- und Verwertungskampfes. Das muss man beim Lesen im Kopf behalten.
Das deutsche Alibi Ruth Hoffmann Penguin 2024, 400 S., 24 €