In einem Gymnasium im Osten Berlins am Ende eines langen Flures sitzt der Schulleiter in seinem Büro am Schreibtisch. Er scrollt durch sein Mailpostfach. Die E-Mail, die er sucht, ist am 6. Oktober des vergangenen Jahres eingegangen, einem Sonntag, abends um 20:48 Uhr. Sie beginnt: „Entschuldigung für die plötzliche und unangemessene Sprengnachrichtendrohung … der Sprengsatz wurde während der Wartungsarbeiten in eurem Gebäude deponiert und wird am Montag um 12 Uhr explodieren.“
Der Schulleiter fand das Drohschreiben am Montagmorgen. „Als wir die Bombendrohung gelesen haben, waren wir schon beunruhigt“, sagt er. „Die Stimmung war mulmig.“ Er habe sofort die Polizei gerufen und die Schülerinnen und Schüler auf dem Hof versammelt. Die Polizei gab zwar Entwarnung, alle strömten zurück in ihre Klassen. „Wir haben uns natürlich trotzdem den ganzen Tag unwohl gefühlt. Man weiß dann ja doch nicht, was passiert.“
Der Berliner Schulleiter möchte nicht, dass der Name seiner Schule oder sein eigener genannt werden, noch laufen die Ermittlungen der Polizei. Doch wie seiner Schule erging es in den vergangenen Jahren sehr vielen in Deutschland: Sie wurden anonym bedroht.
Da las beispielsweise die Sekretärin einer Gemeinschaftsschule in Thüringen an einem Donnerstagmorgen im Januar eine ähnliche E-Mail. Auch dort kam die Polizei, die Schülerinnen und Schüler mussten zu Hause bleiben. Die Sekretärin arbeitet erst seit April 2024 an dieser Schule, aber es war schon die zweite Bombendrohung, die sie erlebte. Ähnlich erging es einer Ganztagsschule in Niedersachsen, einem humanistischen Gymnasium in Hamburg, einer kleinen Grundschule in einem Dorf in Hessen, einer Realschule in Rheinland-Pfalz: Sie alle erhielten Bombendrohungen. Die ZEIT hat mit insgesamt 33 Schulen in zwölf Bundesländern gesprochen, die alle ähnliche Begebenheiten berichten. Alle erhielten Drohschreiben und unterbrachen den Unterricht. In keinem Fall wurde ein Sprengsatz gefunden.
Im Jahr 2021 waren es nur 55 Fälle
Die Zahl solcher Drohungen gegen Schulen ist sprunghaft gestiegen, seit Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Frühjahr 2022 begonnen hat. Sie hat sich im Vergleich zum Jahr zuvor verachtfacht. Die ZEIT hat in allen Bundesländern nachgefragt. Die Zahlen sind lückenhaft, Bayern, Berlin und Schleswig-Holstein konnten keine Angaben machen, andere die Fälle nur händisch auszählen, da es offiziell keine entsprechende Statistik gibt. Aber auch diese lückenhaften Zahlen ergeben ein erschreckendes Bild. Die 13 Innenministerien, die Aussagen machen konnten, registrierten demnach 2021 an 55 Schulen entsprechende Drohanrufe oder Drohmails. Im Jahr darauf waren es bereits 279 Fälle, 2023 dann sogar 445 solcher Taten. Für 2024 oder das laufende Jahr sind die Zahlen noch unvollständiger. Doch der Trend, öffentliche Schulen im ganzen Land zu terrorisieren, ist nach den vorhandenen Daten offenbar ungebrochen.
Die Suche nach Tätern und Motiven ist schwierig. Aber es gibt Indizien, die nahelegen, dass der russische Überfall auf die Ukraine und Russlands hybrider Krieg gegen deren Unterstützerländer für einen Teil dieses Anstiegs verantwortlich sein könnten.
In der Ukraine wurden schon vor Ausbruch des Kriegs zahlreiche Schulen bedroht, inzwischen geht die Zahl der Vorfälle dort in die Tausende. Viele der Anrufe und Mails seien aus den besetzten Regionen Donezk und Luhansk heraus verschickt worden, berichtete die Polizei. Der ukrainische Geheimdienst SBU sieht darin ein Element der hybriden Kriegsführung Russlands.
Auch in Ländern, die sich solidarisch mit der Ukraine zeigen, tauchen seit Kriegsbeginn vermehrt anonyme Bombendrohungen gegen Schulen auf. Unmittelbar mit dem russischen Überfall im Februar habe das angefangen, sagt etwa ein hochrangiges Mitglied einer litauischen Sicherheitsbehörde. An manchen Tagen seien bis zu zehn solcher Drohanrufe an Schulen in Litauen eingegangen.
Tschechien und die Slowakei erlebten ganze Wellen anonymer Bombendrohungen mit Beginn des neuen Schuljahres. Hunderte Schulen wurden dort im September vergangenen Jahres attackiert.