Eine Reise an den Anfang der Geschichten – Seite 1
Jetzt ist es so weit: Im Frachtraum des Airbus der Luftwaffe sind die Kisten mit der ersten Lieferung der Benin-Bronzen verstaut, als die Maschine mit Außenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth aus dem kalten Nebel des Berliner Flughafens abhebt. Das Ziel: Nigerias Hauptstadt Abuja.
Mehr als zehn Jahre lang wurde heftig und oft auch verletzend über den richtigen Umgang mit kolonialem Raubgut gestritten, die betroffenen Institutionen und die Öffentlichkeit hatten sich in dieser Zeit in einen aufreibenden Lernprozess begeben, und zwischenzeitlich schien das Humboldt Forum als der prominenteste Ausstellungsort der Benin-Bronzen förmlich unter dem Druck der moralischen Vorhaltungen zu implodieren. Deutschland, so lautete der Vorwurf, versuche zu mauern, während in Frankreich Emmanuel Macron mit großer Geste umfassende Restitutionen in Aussicht stellte.
Doch dann nahm der kulturpolitische Dialog zwischen Nigeria und Deutschland und seinen Museen Fahrt auf. Und als im Juli dieses Jahres Annalena Baerbock und ihr nigerianischer Amtskollege eine gemeinsame Erklärung unterschrieben, wonach die deutschen Museen alle Benin-Bronzen ohne Wenn und Aber an Nigeria zurückgeben, war Deutschland plötzlich an seinen europäischen Nachbarn vorbeigezogen.
Das Vereinigte Königreich soll über dieses Tempo keineswegs amüsiert gewesen sein, denn nun steht das British Museum mit seinen rund 900 Exponaten aus Benin unter erheblichem moralischem Zugzwang: Wie sieht das aus, wenn ausgerechnet das Land, das 1897 im Rahmen einer Strafexpedition das Königreich geplündert und verwüstet hat, um sodann dessen Kunstschätze auf dem internationalen Kunstmarkt zu verhökern – unter anderem auch an deutsche Museen –, sich überhaupt nicht bewegt!
In Nigeria wird all dies sehr genau wahrgenommen. Als Claudia Roth bei dieser Reise den Bundesstaat Edo besucht, in dessen Grenzen das einstige Benin liegt und wo jetzt mit deutscher Unterstützung ein großer Museumsarchiv- und Wissenschaftskomplex für einen Teil der zurückkehrenden Bronzen entsteht, versichert Gouverneur Godwin Obaseki mit sonorer Autorität, die Deutschen seien nicht für den Raub der Bronzen und die Verwüstung Benins verantwortlich, aber sie seien die Ersten, die das Unrecht anerkannt und es rückgängig gemacht hätten.
Kurz, ein politischer Prozess wie im Bilderbuch: erst Diskurs, dann Diplomatie, schließlich Logistik. Am Ende bewegen sich Objekte durch den Raum. Die Konkretheit politischer Veränderung hat immer etwas Erhebendes. Noch ist es nur eine erste Lieferung, etwa zwanzig Objekte: ein Thronhocker, eine Miniaturmaske aus Elfenbein, mit Korallenschmuck behängt (zum Niederknien schön!), ein Zeremonialschwert, ein Altarhocker, der Gedenkkopf einer Königinmutter – all das wird unter dem Sammelbegriff Benin-Bronzen geführt, auch wenn die einzelnen Objekte nicht immer aus Bronze gearbeitet sind.
Es ist ein historischer Moment, weshalb Annalena Baerbock und Claudia Roth in großer Delegation unterwegs sind: mit Bundestagsabgeordneten, Museumsdirektorinnen und einer Landesministerin. Das ganze Land, soll das veranschaulichen, steht hinter dem Paradigmenwechsel, der sich in der hochsymbolischen und kostbaren Fracht manifestiert.
Und doch gibt es etwas Neues im Verhältnis von Außen- und Kulturpolitik, das auf dieser Reise immer wieder zu spüren ist. Die berüchtigte Zeitenwende, von der Olaf Scholz sprach: Seit dem Überfall Putins auf die Ukraine erscheint tatsächlich alles in einem neuen Licht. Die Gewichte haben sich verlagert. Der Restitutionsprozess um die Benin-Bronzen könnte da fast wie ein Anachronismus aus einer Zeit wirken, in der sich alles um die geschichtlichen Sünden des Globalen Nordens und postkoloniale Vergangenheitsbewältigung drehte, während heute Schützenpanzer, Flugabwehrraketen und Flüssiggas die Agenda bestimmen. Die Welt ist rustikaler geworden. Doch nimmt das den Benin-Bronzen nichts von ihrer Relevanz, sie müssen sich nur in einem neuen politischen Kontext bewähren.
Sehr viel Energie und Geschichtsgefühl
Das spiegelt auch diese Reise wider: Während die Außenministerin am ersten Tag mit Schutzweste in den gefährlichen Norden Nigerias reist, um ein von der Terrorgruppe Boko Haram zerstörtes Dorf zu besuchen, das mit deutscher Hilfe wiederaufgebaut wird, begibt sich die Kulturstaatsministerin in den Süden, nach Edo. Und doch beziehen sich die beiden Routen aufeinander. Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas, es verfügt über enorme Ressourcen, und es hat sich der UN-Resolution angeschlossen, die Russlands Annexion der Ukraine verurteilt. Es soll ein immer wichtigerer Partner für Deutschland werden. Aber politische Zusammenarbeit braucht Vertrauen. Und genau das hat das jahrelange Gespräch zwischen Deutschland und Nigeria über die Anerkennung des Unrechts des kolonialen Kunstraubs geschaffen: Es war ein vertrauensbildender Prozess, der nun für andere Formen der politischen Kooperation genutzt werden kann. Im Auswärtigen Amt nennt man das ein „integriertes Friedensengagement“.
Interessant sind die beiden Protagonistinnen dieser Reise, Annalena Baerbock und Claudia Roth. Weil sie, wie man im politischen Berlin sagt, „farbgerecht“ sind, also derselben Partei angehören, haben sie keinen Anlass, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen, gleichzeitig könnten sie kaum gegensätzlicher sein. Indem sie ganz unterschiedliche Sozialisierungserfahrungen verkörpern, erzählen sie in ihren Personen auch eine Geschichte des Wandels der grünen Partei. Während Claudia Roth für einen weiten Kulturbegriff steht, bei dem letztlich alles, auch Politik, in Kultur aufgelöst werden kann, vertritt Annalena Baerbock einen neuen, harten Realismus, der mit dem pazifistischen Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“, der einmal so zentral für die Grünen war, nichts mehr anfangen kann. Jedenfalls nicht, wenn das Völkerrecht mit Füßen getreten wird. Mit diesem starken Begriff des Völkerrechts haben die Baerbock-Grünen sich einen bellizistischen Schneid zugelegt: Menschenrechte sind nichts für Feiglinge.
Baerbock ist die No-Bullshit-Ministerin mit unerschrockenem Klarheitsduktus, Roth die Politik-Expressionistin, die ganz aus der Fülle der Begeisterung lebt. Wenn sie in Benin City Hände schüttelt, dann zieht sie diese gleich ganz an ihre Brust; wenn sie mit jemandem spricht, dann gibt es überhaupt keinen Zweifel, dass sie sich völlig auf ihn eingelassen hat. Wenn eine Gruppe von Tänzern die Delegation am Flughafen von Benin City begrüßt, reiht sie sich gleich unter die Tanzenden ein und schwingt mit ihnen mit. Die ganzen Rituale des Staatstheaters, das Geschenke-Überreichen, das Kinderknuddeln, das Händeschütteln vor Kameras, werden von Roth mit einer so unverstellten Spontaneität und inneren Beteiligung vollzogen, dass sie alles Steife verlieren. Sie bringt das Protokoll zum Tanzen.
Bei ihrem Gespräch mit den Bronzekünstlern, die das Kunsthandwerk ihrer Vorväter über die 130 Jahre des Raubs am Kulturerbe ungebrochen lebendig gehalten haben, fürchtet man, sie könnte jeden Moment die geschmolzene Bronze eigenhändig in die tönernen Formen gießen. Irgendwann – da hat sie gerade dem zigsten Künstler bei einem Atelierbesuch eindringliche Interpretationsfragen zu seinem Werk gestellt – murmelt ein Mann aus der nigerianischen Delegation: „Die hängt sich wirklich rein!“
Man kann das natürlich belächeln, aber in Wahrheit hätte der Delegation nichts Besseres passieren können: Denn tatsächlich war während dieser Reise stets sehr viel Energie und Geschichtsgefühl in der Luft. Weil sich politische Delegationen aber immer in einem künstlich geschaffenen Raum bewegen, umgeben von Sicherheitsbeamten, eingeklemmt in einen rigiden Zeitablauf, der mit militärischer Akkuratesse umgesetzt wird, braucht es jemanden, der diese Emotionalität stellvertretend für die Gruppe nach außen kehrt und zum Ausdruck bringt. Aus deutscher Perspektive vergisst man gerne, dass Nigeria bereits seit den Siebzigerjahren mit Nachdruck sein geraubtes Kulturgut zurückgefordert hat, ohne dass dies von irgendeiner europäischen Institution je auch nur einer Antwort für würdig befunden worden wäre. Für die nigerianische Zivilgesellschaft kommt ein 50-jähriges Ringen zum Abschluss. Die Bronzen nehmen einen zentralen Platz im kulturellen Gedächtnis ein – als die Stewardessen des Inlandsflugs wissen wollten, welch seltsame Gesellschaft sie da in ihrem Charterflugzeug von Benin City nach Abuja flogen (so viele schwer bewaffnete Polizisten!), und ihnen erwidert wurde, dass es sich um eine deutsche Abordnung handle, die die Benin-Bronzen nach Nigeria zurückbringe, zeichnete sich auf ihren Gesichtern sogleich teilnahmsvolle Ergriffenheit ab. Die nigerianische Öffentlichkeit hat nicht weniger als die deutsche dieses Thema mit Leidenschaft verfolgt.
Das eigentliche Hochamt, die feierliche Übergabe der zwanzig Objekte, fand im großen Konferenzsaal des nigerianischen Außenministeriums in Abuja statt, angeführt von Annalena Baerbock und ihrem Amtskollegen Geoffrey Onyeama. Der Raum war übervoll, die Gesellschaft ein Herz und eine Seele. Annalena Baerbock zitierte die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie: „Kunst lebt in Geschichte, und Geschichte in der Kunst.“ Und als die Objekte dann tatsächlich von der Außenministerin in die Hände des Außenministers übergehen sollten, war kein Halten mehr: Die Fotografen stürzten auf die Bühne oder stiegen auf Stühle, um diesen Moment mit ihren Kameras einzufangen. Wer wie der Berichterstatter zu klein war, streckte sein Handy in die Höhe und schoss auf gut Glück Bilder, in der Hoffnung, irgendetwas von der seltsamen Magie der Objekte einzufangen.
Aber vielleicht werden schon bald einige dieser schicksalsschweren Bronzen zusammen mit zeitgenössischer Kunst aus Edo als Wanderausstellung besuchsweise nach Europa zurückkehren. Dann wird man sie wie alte Bekannte begrüßen, die sich gleichwohl gewandelt haben, weil sie ihre volle Geschichte zurückbekommen haben.