Man weiß es nicht immer genau – doch ist es nicht auszuschließen, dass das Peloton der Rennfahrer über unter dem Pflaster liegende Massengräber fuhr
An der „Mauer von Kigali“ fielen die Vorentscheidungen bei den Rennen dieses Championats
Foto: Anne-Christine Poujoulat/Getty Images
Feiertag in Kigali. Beim Erkunden von Strecken der Rad-WM in Ruanda haben sich Fahrerinnen und Fahrer vieler Nationalteams die Fahnen des Gastgeberlands an die Trikots gesteckt. Es sind nicht nur Sportler aus afrikanischen Ländern, auch viele Profis aus Europa und Nordamerika grüßen so die Menschen am Straßenrand und die Kameras, die auf sie gerichtet sind.
Was viele WM-Teilnehmer aus Europa teilweise überrascht hat: Dass die Hauptstadt Kigali über genügend gut ausgestattete Hotels verfügt und die Asphaltdecke auf den Straßen glatt genug für die teuren Rennmaschinen ist. Bodenwellen seien noch vor den Rennen entfernt worden, sagt Ruandas Radsportpräsident Samson Ndayishimiye.
Eine Attraktion hielt sein Organisationskomitee zusätzlich bereit. Man baute Abschnitte aus Kopfsteinpflaster in den Parcours ein – sowohl an der sogenannten „Mauer von Kigali“ als auch im Szeneviertel Kimihurura. Dieser Belag wurde schon zwischen 2014 und 2018 bei Projekten zur Straßensanierung genutzt. Das Pflaster breitet sich wie ein Mantel des Schweigens, aber nicht des Vergessens über oft grauenhafte Geschichten aus der Zeit des Genozids im April und Mai 1994.
„Von 71 Menschen, die von der damaligen Präsidentengarde gefangen gehalten wurden, bin ich der einzige Überlebende“, erinnert sich ein Einwohner des Viertels neben der Trasse. Eine Frau schildert, wie die Interahamwe-Miliz, der brutalste Akteur der Hutu-Diktatur während des Völkermords, ihr eine Woche altes Baby tötete. Sie bekam zu hören, dieses Kind werde später Rache nehmen, wenn man es nicht umbringe.
Ruanda bewirbt sich um Formel 1
Die vor mehr als drei Jahrzehnten verübten Gräuel scheinen heute nicht mehr allgegenwärtig zu sein, aber sind es eben doch, sobald man mit Bewohnern Kigalis spricht. Wenn jetzt die Australierin Amanda Spratt nach dem Teamzeitfahren über das Pflaster von Kimihurura sagt: „Es war wie die Einfahrt zur Hölle“, galt das allein der Härte des Anstiegs und dem rauen Belag.
„Der Sport war ein Eckpfeiler beim Neuaufbau unserer Nation nach dem Genozid“, sagt Sportministerin Nelly Mukazayire. Tatsächlich habe sich vor allem der Fußball angeboten, um die Ethnien der Hutu und Tutsi zu versöhnen. „Schon kurz nach den Massakern habe ich in unserer Gegend Spiele zwischen der Armee und lokalen Klubs angesetzt. Sie sollten ein Zeichen dafür sein, dass jetzt Frieden herrscht und in den Kongo geflohene Tutsi zurückkehren können“, erzählt der Trainer und Englischlehrer Ladislas Nkundabanyanga.
Inzwischen kommt dem Sport aus Sicht von Präsident Paul Kagame eine weitere Mission zu. „Er soll unsere ökonomische Transformation antreiben“, sagt die Sportministerin. Dafür werde in die Infrastruktur investiert, wie den Ausbau des Amahoro-Stadions auf 45.000 Plätze. Hochrangige Veranstaltungen wie der FIFA-Kongress 2023 wurden ins Land geholt. Aktuell bewirbt sich Ruanda um einen Formel-1-Grand-Prix, die Rad-WM passt vorzüglich zu dieser Agenda.
Das Land folgt dem Beispiel arabischer Ölmonarchien wie Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Internationale Sportveranstaltungen dienen als Werkzeuge des Soft Power, um internationales Renommee zu entwickeln. Doch Ruanda pflegt auch besonders intensive Beziehungen mit Katar. Der Golfstaat investiert in Größenordnungen. Aktuell laufen Verhandlungen über den Ausbau des internationalen Flughafens von Kigali. Schließlich soll die nationale Fluglinie Qatar Airways 49 Prozent von Rwanda Air übernehmen.
Katars Hauptstadt Doha ist zudem Gastgeber der Friedensgespräche über den Ostkongo. Dort ist Ruanda teils direkt mit eigenen Militärs, teils indirekt über den Beistand für die M23-Miliz involviert. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch werfen deren Kombattanten vor, während der Friedensgespräche mehr als 140 Menschen in der Nähe des kongolesischen Virunga-Nationalparks getötet zu haben, den man bisher als Schutzzone für Gorillas touristisch vermarktet. Zugleich verantworte Ruandas Polizei willkürliche Verhaftungen von Straßenkindern und Prostituierten wie die Folter von Oppositionellen, so Human Rights Watch.
Wegen der Verstrickung Ruandas in den Krieg im Osten des Kongo forderte das EU-Parlament im Februar eine Verlegung der Rad-WM in ein anderes Land. Der Weltradsportverband UCI wollte dem nicht folgen. Es gäbe keinen Plan B, antwortete UCI-Präsident David Lappartient auf diesbezügliche Anfragen. Der Franzose hatte die Austragung einer ersten Rad-WM auf afrikanischem Boden stets zu einer Herzensangelegenheit erklärt. „Ich habe es bei meinem Amtsantritt versprochen, und jetzt verfahren wir entsprechend“, sagte er zur Eröffnung der WM in Kigali.
Ist das „sports washing“?
Eine Gruppe junger Männer fühlte sich durch die Rad-Weltmeisterschaft besonders wertgeschätzt – Fahrradtaxifahrer, die Tag für Tag auf schweren Ein-Gang-Rädern unterwegs sind. Sie befördern entweder einen Passagier oder schwere Lasten, von Getränkekisten über Zimmertüren bis zu meterlangen Rohren und Regenrinnen. Sie beobachteten die WM-Teilnehmer beim Training, sahen sich herausgefordert und hielten zum Teil gut mit. „Wer etwas kann, den laden wir zu Trainingslagern ein“, sagte David Louvet, der aus Frankreich kommende Nationaltrainer Ruandas. „Von einigen Fahrradtaxifahrern weiß ich, dass sie den Sprung in unsere Equipe geschafft haben.“
Die erste Rad-WM auf afrikanischem Boden in der immerhin schon 125-jährigen Geschichte des Weltradsportverbands wird von einigen als Aufbruchssignal für den ganzen Kontinent gesehen. „Kigali 2025, das ist ein historischer Moment, darf aber kein einmaliges Ereignis sein. Nach uns müssen auch andere afrikanische Nationen die Chance erhalten, Titelkämpfe auszurichten“, findet Ruandas Radsportpräsident Samson Ndayishimiye.
Ungelöst bleibt bei alldem ein Dauerthema des internationalen Sports: Wie sehr kaschieren Großereignisse Menschenrechtsverletzungen in den Ausrichterländern? Der Krieg im Ostkongo wie die teils repressive Innenpolitik Ruandas schienen bei der Rad-WM weit weg zu sein.