Ronya Othmann reichlich dasjenige neue Syrien: „Ich fühle mich in Deutschland gegaslighted“

In Rückkehr nach Syrien sucht die Schriftstellerin Ronya Othmann nach Hinweisen, in welche Richtung das Land nach dem Sturz Assads steuern könnte. Gerechtigkeit und ein Ende der Despotie – oder eine andere, neue Gewaltherrschaft, dieses Mal eine islamistische? Ronya Othmann war in Syrien – mit ihrem Vater, der dort geboren ist. Als Teil der jesidisch-kurdischen Minderheit blickt sie auf Freiheit nicht theoretisch und abstrakt, sondern als etwas, das für alle und universell gelten muss. Erst dann verdient es, sich Freiheit zu nennen.

der Freitag: Frau Othmann, der Sturz eines Diktators gilt als ein Moment der Hoffnung. Meistens erwarten wir dann vor allem: Freiheit. Wie haben Sie den Moment im Dezember 2024 erlebt, in dem Bashar al-Assad fiel?

Ronya Othmann: Zuerst war da Unglauben. Das ist der ersehnte Moment. Aber kann er wirklich wahr sein? Vor 2011 konnte ich mir nicht vorstellen, dass eine Revolution stattfinden würde. Dann kamen die Proteste – und ich war euphorisiert.„Eins, eins, eins – das syrische Volk ist eins“, hallte auf den Straßen, aus allen Gesellschaftsgruppen gingen Menschen raus, auch Verwandte von mir. Gleichzeitig wusste ich, wie brutal das Regime reagieren kann. Und das tat es dann auch. Danach schien es, als hätte Assad gewonnen und die Weltgemeinschaft würde sich damit abfinden. Doch dann fiel das Regime, aber nicht durch die Hand demokratischer Akteure, sondern durch Islamisten. Auch wenn ich froh war, dass Assad weg war, machte es mir Angst.

Sie kennen Syrien unter Assad, waren fast jede Sommerferien dort. Welche Bilder einer Diktatur haben sich eingebrannt?

Die Allgegenwart der Herrscherbilder. Assads Gesicht und das seines Vaters: in Taxis, Bussen, Apotheken, Behörden, an Hauswänden. Du vergisst keine Sekunde, dass du dich in einer Diktatur befindest. Und in dieser Diktatur kannst du niemandem vertrauen. Als jesidische Kurden hielten wir natürlich nicht viel vom Regime. Offen sagen konnte man das nicht. Und auch die Schulen, in die meine Verwandten gingen – die Gebäude sahen alle aus wie kleine Kasernen und die Schüler in ihren Uniformen wie kleine Soldaten. Die Schulbücher waren voller Propaganda. Die strukturelle Benachteiligung war spürbar: kurdische Dörfer bekamen später Strom als andere, Lehrer kamen mitunter gar nicht oder waren schlecht ausgebildet. Meine Verwandten waren staatenlos. Und natürlich wusste ich, dass Menschen verschwanden. Das prägt das ganze Leben.

Wir haben an gewissen Stellen aus Sicherheitsgründen verschwiegen, dass wir zur Minderheit der Jesiden gehören.

In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Sie mit Ihrem Vater nach dem Sturz Assads über die jordanische Grenze einreisen. Am Checkpoint zückt Ihr Vater seine syrische Geburtsurkunde. Ein Moment, in dem er geradezu sagt: „Ich erhebe Anspruch auf dieses Syrien, ich gehöre dazu.“ Man lässt Sie passieren.

Da war das Gefühl, wieder syrischen Boden zu betreten – und zugleich die Absurdität des Übergangs. Rundherum bärtige Männer mit Messern und Maschinengewehren – Islamisten. Und im Grenzhäuschen noch die alten Assad-Beamten. Wir durften einreisen, ja. Aber ich dachte: Vielleicht ist das unsere letzte Reise. Man ist im eigenen Land, und doch fühlt es sich an wie ein fremdes Terrain. Insgesamt ein seltsames Nebeneinander von Normalität und Einschüchterung. Du weißt nicht, was im nächsten Moment, am nächsten Tag, in einem Monat passiert.

Derart auf der Hut zu sein, enttarnt Sie als eine Beobachterin, die vielleicht als nicht-neutral gelten würde, auf jeden Fall eine, der es vor allem aus der eigenen Geschichte heraus um die Situation von Minderheiten und Frauen in diesem neuen Syrien geht.

Ja, und dabei ist dieses Nicht-Neutral-Sein noch nicht einmal eine Entscheidung. Die neuen Machthaber in Damaskus haben ja schon in der Vergangenheit Jesiden verfolgt, vertrieben, ermordet. Wir haben an gewissen Stellen aus Sicherheitsgründen verschwiegen, dass wir zu dieser Minderheit gehören. An anderen Stellen – etwa, wenn wir Drusen, Alawiten, Ismailiten oder Christen begegneten, öffnete das hingegen Türen und Herzen.

Sie beschreiben die Gegenwart sehr kontrastreich. Idlib auf der einen, die kurdisch verwalteten Gebiete auf der anderen Seite. Was bedeutet diese Spaltung?

Sie stellt die Frage, wie das zusammengehen soll. In Idlib herrscht de facto eine islamistische Diktatur. Es gibt Gefängnisse für politische Gegner, Cafés mit Geschlechtertrennung, keine Musik, vollverschleierte Frauen, Plakate mit Scharia-Parolen. Ich habe dort eine Frau mit einem IS-Banner gesehen. In den kurdischen Gebieten erlebst du das Gegenteil: Frauen an Checkpoints, Frauen als Gesprächspartnerinnen in der Verwaltung, und als Frau konnte ich herumlaufen wie in Berlin, ohne dass es Aufsehen erregte. Idlib und der Nordosten, das sind zwei Systeme, die sich kaum versöhnen lassen – Tag und Nacht.

Trotzdem hoffen jetzt viele auf die Verheißung dieses „neuen Syriens“. Was würden Sie ihnen sagen? Gibt es Anzeichen, dass es erneut auf autoritäre Strukturen hinausläuft?

Die größten Alarmsignale sind die Massaker – an den Alawiten an der Küste und an den Drusen in Suwaida. Dazu kommen Entführungen von Frauen, Drohungen gegen Angehörige, täglich gibt es Tote. Sippenhaft – eine Praxis, die man vom Assad-Regime kennt – wird fortgesetzt. Es gibt Versuche, Alkohol zu verbieten und den Frauen Kleidungsvorschriften zu machen. Pressefreiheit existiert bestenfalls als Wort. Die Wahlen haben diesen Namen nicht verdient. Das alles ist kein Übergang, das ist ein System. Es ist auch der Punkt, wo ich mich in Deutschland gegaslighted fühle, wenn ich darüber spreche und dann doch zurückkommt: Aber es ist alles besser als Assad.

Genauso wenig, wie die Verbrechen des IS aufgearbeitet worden sind, werden die Verbrechen der Assad-Diktatur aufgearbeitet.

Blicken wir also durch die Augen der Minderheiten auf Syrien: Ist es genauso schlimm? Oder schlimmer als Assad?

Assad hat die Minderheiten nicht geschützt, sondern gegeneinander ausgespielt. Mit seiner Politik, seinem Krieg bereitete er den Islamisten den Boden. Der Platz, auf dem die Drusen in Suwaida nun gegen die Islamisten protestieren, ist derselbe Platz, auf dem sie schon gegen Assad demonstrierten. Die Christen versuchen, sich so einzurichten, dass sie überleben. Unter den Kurden habe ich niemanden getroffen, der freiwillig unter Islamisten leben möchte. Am Ende geht es für die Angehörigen von Minderheiten um die Frage, in welchem Regime man eher überleben kann, nicht, welches schlimmer ist.

In Ihrem Buch „Vierundsiebzig“ haben Sie den Genozid an den Jesid:innen 2014 dokumentiert. Jetzt waren Sie im Al-Hol-Camp, wo die Täter:innen, zehntausende IS-Kämpfer:innen, einsitzen. Was haben Sie dort gesehen?

Radikalisierung, Gewalt, Angst. Es gibt interne „IS-Gerichte“, Morde im Camp, Angriffe auf Mitarbeiterinnen. Am extremsten sind die IS-Täterinnen aus dem Ausland. Sie wollen weiter Kinder für den Jihad gebären. Und – es ist wirklich beinahe zu schrecklich, darüber zu sprechen – missbrauchen dafür Jungen von 12, 13 Jahren. Da ihre Männer im Gefängnis sind, müssen diese Kinder „herhalten“. Waffen finden ihren Weg ins Camp, Korruption blüht. Das ist kein Ort, an dem Heilung oder ein Neuanfang für eine Gesellschaft verhandelt wird; es ist ein Ort, an dem Gewalt nachwächst. Aber ich denke, es gibt generell ein Problem mit dem Verständnis von Gerechtigkeit. Denn genauso wenig, wie diese Verbrechen aufgearbeitet worden sind, werden die Verbrechen der Assad-Diktatur aufgearbeitet.

Sie schreiben auch über einen symbolträchtigen Ort dieser Diktatur, das Gefängnis Sednaya.

Dort lag das Beweismaterial offen herum: Listen, Unterschriften, Dokumente über Lebensmittelzuteilungen – die Spur eines ganzen Apparats. Papiere waren durchnässt, zerfielen buchstäblich. Man trat ständig auf Dokumente, konnte gar nicht anders, weil sie einfach überall auf dem Boden lagen. Wer Angehörige sucht, braucht genau solche Spuren. Und doch war nichts gesichert, nichts geschützt. Man hätte Dokumente einfach einstecken und vernichten können. Das zeigt, welchen Stellenwert Recht und Aufarbeitung im „neuen“ System haben: keinen.

Ich schreibe auch anderes. Aber das Thema kehrt zurück. Die Gewalt schreibt immer mit und sucht sich ihren Weg.

Syrien ist ein multiethnisches und multireligiöses Land. Was wäre eine Vision dafür?

Ein föderales Modell könnte Minderheiten schützen, wenn es ernst gemeint ist. Eine De-facto-Autonomie existiert bereits: im Nordosten die der Kurden, und bei den Drusen im Südwesten. Ich als Beobachterin frage mich, ob Teilung nicht auch Befriedigung bedeuten kann. Das ist provokant, ich weiß. Aber der Gedanke des arabischen Nationalstaats in seiner zentralistischen Gestalt hat Minderheiten systematisch unsichtbar gemacht. Und wir sehen, dass dies jetzt auch in einem islamistischen Staat geschieht.

Sie zählen zu den Autor:innen, denen ihre Themen in die Wiege gelegt worden sind: Diktatur, Krieg, Flucht. Sehnen Sie sich danach, auch einmal etwas anderes zu schreiben?

Ich schreibe auch anderes. Aber das Thema kehrt zurück – auch durch die Hintertür. Die Gewalt schreibt immer mit und sucht sich ihren Weg. Und bestimmte Bilder lassen mich nicht los: Massengräber der Jesid:innen in Shingal, das Papierrascheln in Sednaya, der Geruch von Säure, die Körper zersetzt hat, die Kinder jesidischer Mütter, die durch Vergewaltigung in IS-Gefangenschaft entstanden sind. Man kann die Perspektive wechseln, aber diese Dinge haben sich in meinen Blick eingeschrieben.

Sprachlich findet man in „Rückkehr nach Syrien“ Ihren Rhythmus wieder – diese Stakkati und Wiederholungen, die dann in einen neuen Gedanken kippen. War Ihnen diese stilistische Kontinuität wichtig?

Ich lese laut vor, was ich geschrieben habe und feile an jedem Satz, bis er klingt. Vierundsiebzig und Rückkehr nach Syrien sind sehr unterschiedliche Bücher, aber der Klang ist mir wichtig. Schreiben, laut lesen, kürzen, wieder lesen – so lange, bis jedes Wort trägt. Der Rhythmus ist aber trotzdem nicht nur Kulisse; er ist Teil der Aussage.

Ronya Othmann kam 1993 als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters zur Welt. Ihr Debütroman Die Sommer erschien 2020 bei Hanser. Es folgten ein Lyrikband sowie die literarischen Reiseberichte Vierundsiebzig und nun Rückkehr nach Syrien (Rowohlt 2025, 192 S., 22 €)

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