Roman übers Altern: Ein lebensbejahender Blick gen den Tod

Eine Angehörige im Seniorenheim zu besuchen, das kann herausfordernd, ermüdend, zu Herzen gehend sein. Ähnlich kann es einem auch bei der Lektüre von Lídia Jorges neuem Roman ergehen. Der Roman beginnt mit einer von der Leiterin eines „Hotel Paraíso“ genannten Seniorenheims angebrachten Inschrift, die geradezu ein Gegenprogramm zu den Worten über Dantes Höllentor zu sein scheint: „Wir bitten Sie (. . .) dringend, jegliche Anzeichen von Melancholie oder Traurigkeit an diesen Pforten zurückzulassen.“ Der Roman gibt sich als eine Transkription einer Art mündlichen Tagebuchs aus, das die im Rollstuhl sitzende Erzählerin, Maria Alberta Nunes Amado, genannt Dona Alberti, in einer Audiodatei hinterlassen hat. Sie berichtet aus dem letzten Jahr ihres Lebens in jenem Heim, ihrem „Exil“, bevor sie im Zusammenhang mit einer Infektion am Anfang der Pandemie verstirbt.

Das Cover zu Lídia Jorges RomanVerlag

Lídia Jorge verheimlicht nicht, dass diese Geschichte durch das letzte Lebensjahr ihrer eigenen Mutter inspiriert ist; in Interviews hat sie erzählt, dies sei eine Art Auftragsarbeit gewesen, ihre Mutter habe explizit gewünscht, dass sie einen Roman mit dem Titel „Miseri­córdia“ schreibe. Und so findet sich denn auch in Erbarmen eine Szene, in der die Mutterfigur auf Jorges literarisches Schaffen Bezug nimmt, das in ihren Augen keine Gnade findet: „(. . .) niemand liest deine Bücher, weil mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie enden nicht gut (. . .). Warum schreibst du nicht wenigstens noch ein paar Zeilen, um deinen Lesern etwas Hoffnung zu geben?“

Nun ist es keineswegs so, dass die Tochter ihrer Mutter mit diesem naiven Verständnis von Literatur recht geben würde. Aber mit diesem Werk versucht Lídia Jorge, die mit ihren Romanen über die Folgen von Diktatur, Nelkenrevolution und Kolonialkrieg zu einer der bedeutendsten Autorinnen der portugiesischen Gegenwartsliteratur wurde, in der Tat etwas anderes. Und wenn die Mutter der Tochter vorhält, sie solle über bedeutende Persönlichkeiten schreiben, weil nur so etwas bei den Lesern populär sei, dann konterkariert Jorge das dadurch, dass sie eben — in fiktionalisierter Weise — über ihre Mutter schreibt.

Das Seniorenheim als Mikrokosmos

Ironisch ist auch der Hinweis von Dona Alberti, einst, „als ich noch gut lesen konnte, hast du mir ein Buch über einen römischen Kaiser gebracht, den es wirklich gab, ihn und seinen Geliebten“ — eine Anspielung auf Marguerite Yourcenars Roman „Ich zähmte die Wölfin“ (1951). In einem Zeitungsinterview führt Jorge diesen Roman als einen der wenigen an, die sich mit dem Alter beschäftigen. Während Kaiser Hadrians Weltsicht darin vom Stoizismus geprägt ist, entwickelt die „einfache“ Erzählerin bei Jorge ihre eigene Form von Lebensklugheit. Anders als bei Hadrian geht es hier nur sehr punk­tuell um Erinnerungen, stattdessen steht das unmittelbare Erleben in der Gegenwart im Fokus, so dass noch die trivialsten Ereignisse des Alltags Anlass zur Reflexion bieten. In gewissen Abständen wird Dona Alberti von einer Personifikation der „schmutzigen“ Nacht heimgesucht, die sich auf ihr Bett setzt, eine Vorahnung des Todes, eine Art innere Stimme. Jorge versucht so den Realismus der Erzählung zu verfremden, aber diese Szenen fügen dem Ganzen kaum etwas Neues hinzu.

In „Erbarmen“ geht es um die letzten Dinge, einen lebensbejahenden Blick auf Alter und Tod. Jorge interessiert die Welt des Seniorenheims als ein von der Außenwelt weitgehend abgeschirmter Mikrokosmos, in dem sich menschliche Verhaltensweisen in äußerster Konzen­tration studieren lassen. Es geht um Missgunst, Solidarität, moralisches Empfinden, die Bedeutung des Speiseplans, von wenigen materiellen Besitztümern, die oft kurzen Beziehungen zu den Pflegerinnen und Pflegern, Sexualität und Liebe im Alter. Ein besonders dramatisches Ereignis stellt eine Ameiseninvasion dar, anlässlich derer die Ich-Erzählerin Folgendes feststellt: „Bewegung ist Leben, die, die sich am meisten bewegen, sind die, die am meisten leben.“

Der Geist kennt kein Gefängnis

Dona Alberti entwickelt eine intensive Beziehung zu einer brasilianischen Pflegerin namens Lilimunde, die aufgrund ihrer Minderjährigkeit nur mit gefälschten Papieren immigrieren konnte. Da sie dafür Geld an ihre brasilianische Kirche zurückzahlen muss, sieht sie sich zur Aufnahme eines weiteren Jobs gezwungen, und dann wird ihr Leben noch durch eine Schwangerschaft verkompliziert. Hier und an anderen Stellen nimmt der Roman die prekären Arbeitsbedingungen in der Pflege und von Migranten in den Blick, aber das ist nur ein Nebenaspekt.

Am eindrücklichsten ist, wie der Roman Dona Alberti als starke, eigenwillige Figur gestaltet, ausgestattet mit einer großen inneren Freiheit, die sie ständig zu einem unabhängigen Urteil über ihre Umgebung, zu einer Skepsis gegenüber dem infantilisierenden Unterhaltungsprogramm oder auch zu einer Komplizenschaft mit einem maghrebinischen Pfleger führt. Begrenzung, Freiheit und Distanz zu sich selbst bedingen einander: „So beschränkt die Möglichkeiten meines Körpers auch sind, mein Geist kennt bislang wahrhaftig kein Gefängnis. Dies ist mein Zuhause, aber die Welt da draußen ist eigentlich mein Raum.“

Die Existenz im Heim ist von der ständigen Gegenwart des Todes gekennzeichnet, aber Dona Alberti verspürt bis zuletzt den Willen zum Leben, ein „ständiges Verlangen an diesen anderen Existenzen neben unserer eigenen teilzuhaben“. Um dies auch erzählerisch umzusetzen, erzeugt der Roman durch seine Länge die Illusion, wir würden unsererseits daran teilhaben. Das ist eine Definition von Literatur. In diesem Fall funktioniert es durchaus — allerdings auch mit ­erheblichen Längen.

Lídia Jorge:  „Erbarmen“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Steven Uhly. Secession Verlag, Berlin 2025. 430 S., geb., 30,– €.

Source: faz.net