Mohamed Mbougar Sarrs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist alles in einem: Märchen, Krimi und Satire auf den Literaturbetrieb. Für seinen fesselnden Roman bekam der Senegalese Mohamed Mbougar Sarr den Prix Concourt 2021
Als Ende der 1980er in den USA wild über die kulturellen Schätze der Welt debattiert wurde, soll der amerikanische Romancier Saul Bellow enerviert den westlichen Kanon gegenüber anderen Kulturen verteidigt haben. Der ihm zugeschriebene Satz „Wenn die Zulus einen Tolstoi hervorbringen, werden wir ihn lesen“, steht bis heute für die westlich-hegemoniale Perspektive auf die Weltliteratur.
Die bekommt auch ein mysteriöser senegalesischer Schriftsteller zu spüren, der als Phantom und Fixstern durch den umwerfenden Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr geistert. Dort veröffentlicht er als T.C. Elimane im Paris der 30er Jahre einen Roman, der eine literaturkritische Kontroverse auslöst. Einige feiern den Autor von „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ als „schwarzen Rimbaud“, andere verteufeln das Buch als schlecht gemachtes Plagiat. Elimane taucht ab und verschwindet in den Wirren der Zeit. Sein Roman aber wird zum Mythos und wandert von Hand zu Hand.
Jahrzehnte später macht sich der junge senegalesische Literat Diégane Latyr Faye auf die Suche nach Elimane, nachdem er erst einer überaus attraktiven Schriftstellerin und dann dem Roman verfällt, an den er über sie gelangt. Seine Recherche wird zum literarischen Stoff, der ihm, so hofft er, eines Tages den Prix Goncourt einbringen soll. Weil sich Realität und Fiktion zuweilen magisch durchdringen, wundert es kaum, dass der 32-jährige Verfasser dieser wilden Geschichte im vergangenen Jahr tatsächlich mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.
Mohamed Mbougar Sarrs fiktiver Widergänger, der Ich-Erzähler dieses Romans, tut einiges, um seinem Landsmann Elimane auf die Spur zu kommen. Er wühlt sich durch die Dokumente der damaligen Affäre, sucht Elimanes Weggefährt:innen auf und folgt den verwischten Spuren seines Idols – von Europa über Südamerika bis nach Afrika. Die Literaturen dieser Weltregionen sind spielerisch mit der Erzählung verwoben, etwa wenn Bezüge zu Milan Kundera oder Boris Vian hergestellt werden, Elimane in den Dunstkreis von Roberto Bolaño, Witold Gombrowicz und Ernesto Sábato gerückt oder der sagenumwobene Literat in einem Atemzug mit Frantz Fanon und Léopold Sédar Senghor genannt wird.
Das Buch ist dem malischen Schriftsteller Yambo Ouologuem gewidmet, dessen Roman Das Gebot der Gewalt – 2019 in der Übersetzung von Eva Rapsilber neu aufgelegt – 1968 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. Weil Ouologuem mit Versatzstücken und Übernahmen aus dem westlichen Kanon arbeitete, sah er sich nach anfänglichem Lob bald Plagiatsvorwürfen ausgesetzt. Er zog sich daraufhin aus der Öffentlichkeit zurück. Wem gehört die Literatur? Und wer darf mit ihr spielen, sie sich aneignen und verwandeln? Fragen wie diese ziehen sich durch Sarrs gewaltigen Roman, der sich wie eine Beschwörung von Yambo Ouologuem liest. Bei der Verschwörung des weißen Kulturbetriebs gegen einen afrikanischen Autor geht es im Kern darum, wer sprechen darf und Deutungshoheit besitzt. Aus allen Seiten steigt dumpf der Mief des Kolonialismus empor.
Literaturtheorie trifft auf Sex
Die geheimste Erinnerung der Menschen ist zweifellos ein politischer Roman, weil er zur Diskussion grundsätzlicher Fragen von Authentizität und Aneignung anregt. Moralisch oder gar belehrend ist er aber nicht. Er schwebt magisch über den Dingen und morpht sich durch die Genres, ist Märchen, Krimi, Satire auf den Literaturbetrieb, Sozial- und Entwicklungsroman in einem. Dabei trifft Literaturkritik auf Tagebuchsequenzen, biografische Nacherzählung auf dialogische Passagen, Literaturtheorie auf Sex. Auch die Tradition der mündlichen Überlieferung, die afrikanischen Literaturen nachgesagt wird, findet ihren Niederschlag, etwa wenn Diégane erzählt, wie ihm die Cousine von Elimane erzählt, was sie von ihrer Geliebten über Elimane gehört hat.
Sabine Müller und Holger Fock, die als Tandem auch das Werk von Goncourt-Preisträger Mathias Énard übersetzen, haben dieses hochliterarische und vielstimmige Spiel kraftvoll und poetisch ins Deutsche gebracht. Sie ziehen dafür sämtliche Register, meistern die anmaßenden Töne des Pariser Kulturbetriebs ebenso wie den lüsternen Dirty Talk junger Literat:innen. Mal raunt, säuselt und flüstert ihr Text mit dem Wind der Literatur, dann wieder poltert und donnert er wortgewaltig mit der Brutalität der Geschichte, durch die er streift.
Sarrs Roman ist gewissermaßen Elimanes Labyrinth, aus dem man anders herauskommt, als man hineingegangen ist. Er arbeitet mit erzählerischen Sprüngen, Spiegeleffekten und literarischen Verweisen. Er erzählt ein Buch im Buch und spielt über Bande mit seiner eigenen Autorenposition. Derart werden wir Zeuge, wie ein überaus belesener echter Schriftsteller mit allen Mitteln der Literatur einen fiktiven Schriftsteller zum Leben erweckt, der erzählt, wie er sich von einer fiktiven Schriftstellerin die Geschichte eines fiktiven Schriftstellers erzählen lässt, die wiederum an die Geschichte eines echten Schriftstellers angelehnt ist. Bei diesem vieldimensionalen Katz-und-Maus-Spiel funktioniert der Text wie ein Spiegelkabinett, durch dessen verwinkelte Gänge jede:r Leser:in einen eigenen Weg finden muss. So verrückt es klingt, so grandios ist das auch.
Mohamed Mbougar Sarr ist ein literarisches Genie. Mit Die geheimste Erinnerung der Menschen hat er sich den literarischen Kanon nicht nur zu eigen gemacht, sondern sich darin eingeschrieben. Er erzählt davon, was den Menschen zum Menschen und Literatur zu großer Kunst macht. Würde Saul Bellow noch leben und diesen Roman nicht feiern, wäre ihm auch nicht mehr zu helfen.
Die geheimste Erinnerung der Menschen Mohamed Mbougar Sarr Holger Fock, Sabine Müller (Übers.), Hanser Verlag, 448 S., 27 €
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