Die besinnlichen Feiertage sind für Roland Lescure gerade noch ganz weit weg. Ob er dieses Jahr überhaupt zur Ruhe kommen wird, steht in den Sternen. Empörte Unternehmer, wütende Bauern und der Mercosur-Konflikt halten ihn auf Trab. Vor allem aber stellte sich am Freitag heraus, dass Frankreich wohl oder übel zum zweiten Mal in Folge ohne regulären Staatshaushalt ins neue Jahr starten muss.
Bis zu dessen Verabschiedung würden die bisherigen Einnahmen und Ausgaben dann erst einmal wieder mittels Sondergesetz fortgeschrieben. Die Debatte über Sparmaßnahmen und höhere Steuern, um der höchsten Schuldenlast Europas Herr zu werden, kochte also wieder über den Jahreswechsel hinaus.
Schlüsselakteur der Haushaltsdebatte
Als Superminister für Finanzen, Wirtschaft, Industrie, Energie und Digitalisierung ist Lescure im Gespann mit der ihm beigeordneten Haushaltsministerin Amélie de Montchalin ein Schlüsselakteur der Haushaltsdebatte, die die zunehmende Lähmung der französischen Politik illustriert. Schon das Ringen um den vor wenigen Tagen verabschiedeten Sozialversicherungshaushalt war zäh. Die Minderheitsregierung von Premierminister Sébastien Lecornu musste sich vielen Forderungen der Sozialisten beugen, sei es die Aussetzung der jüngsten Rentenreform oder die Erhöhung der Sozialabgaben auf Kapitaleinkünfte. Die konservativ-bürgerlichen Republikaner drängen gerade in Steuerfragen auf einen völlig anderen Kurs. Und so geht zur Freude der Populisten links wie rechts alles in allem nur wenig voran.
Man habe sich auf einen Sozialversicherungshaushalt geeinigt, „der niemanden vollständig zufriedenstellt“, räumte Lescure ein. Aber man habe sich entgegen allen Unkenrufen geeinigt. Dieser Wille zum Kompromiss sei für ihn auch in den Verhandlungen um den Staatshaushalt handlungsleitend, betonte man in den vergangenen Tagen im Umfeld des Ministers. Doch der im Oktober von der Regierung ins Parlament eingebrachte Haushaltsentwurf zerschellte an den politischen Realitäten.
Am Freitag erklärte der Vermittlungsausschuss von Nationalversammlung und Senat, keine Einigung erzielt zu haben – zu weit auseinander liegen die Vorstellungen von Präsidentenlager, Sozialisten und Republikanern. Lecornu will nun vom kommenden Montag an „die wichtigsten politischen Entscheidungsträger zu einer Konsultation zusammenbringen“.
Begrenzt handlungsfähig
Ohne regulären Haushalt bliebe Frankreichs Handlungsfähigkeit stark limitiert. Der Staat dürfte mit dem Sondergesetz dann nur im Rahmen der Budgetplanung von 2025 Steuern erheben, Kredite aufnehmen und Ausgaben tätigen. Mit anderen Worten: Einen „Shutdown“ wie in den USA gäbe es zwar nicht, dafür aber zunächst auch weder Einsparungen noch eine Aufstockung des Wehretats – ein denkbar schlechtes Signal in der aktuellen Bedrohungslage.
Dabei gibt es in Frankreich seit dem Sommer 2024 ohnehin kaum noch große politische Handlungsspielräume. Die zersplitterten Mehrheitsverhältnisse im Parlament haben den Reformmotor zum Erliegen gebracht, während sich die Kassenlage durch den steigenden Schuldendienst weiter verschlechtert hat. Immerhin: Die französische Wirtschaft steht trotz der politischen Instabilität insgesamt robust da. Das kann den Finanzminister etwas beruhigen. Am Freitag korrigierte die französische Notenbank ihre Wachstumsprognose sogar leicht nach oben auf 0,9 Prozent in diesem und ein Prozent im kommenden Jahr.
Lescure wusste, dass es schon einfachere Zeiten als französischer Minister gab, als er im Oktober in die Regierung eintrat. Ein Politikneuling ist der 59 Jahre alte Vertraute von Präsident Emmanuel Macron nicht. In dessen erster Amtszeit stand er der Finanzkommission der Nationalversammlung vor. Anschließend gehörte er von 2022 bis 2024 als beigeordneter Minister für Industrie und Energie den Regierungen von Élisabeth Borne und Gabriel Attal an. Rückblickend war es eine Phase, in der man in der französischen Politik zumindest noch ein wenig gestalten konnte. Vor seiner Berufung in das Kabinett von Lecornu war Lescure Vizepräsident der Nationalversammlung.
Ein untypischer Lebenslauf
Ganz typisch für die Pariser Politikelite ist seine Vita nicht. Zwar wuchs der Sohn eines Redakteurs der kommunistischen Zeitung „L’Humanité“ und einer Gewerkschafterin der radikalen CGT in der Metropole auf. Auch ging er wie so viele französische Führungskräfte auf Elite-Universitäten – erst auf die Ingenieurhochschule École polytechnique, dann auf die École nationale de la statistique et de l’administration économique, komplettiert durch einen Masterstudiengang an der London School of Economics. Lescures Karriere startete dann stereotypisch mit Stationen im Finanz- und Wirtschaftsministerium, im nationalen Statistikamt und bei der staatlichen Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaft Caisse des Dépôts et Consignations.
Durch seine anschließenden Führungspositionen in der Privatwirtschaft mit Stationen bei der französischen Bank Natixis Asset Management, der Versicherungsgesellschaft Groupama und dem kanadischen Rentenfonds Caisse de dépôt et placement du Québec (CDPQ) erwarb er dann jedoch Qualitäten, die vielen anderen französischen Ministern fehlen. Das fängt mit tadellosen Englischkenntnissen an. Lescure weiß, wie in der globalen Finanzwelt der Hase läuft, hat durch seine Zeit bei CDPQ auch die kanadische Staatsbürgerschaft und ist obendrein mit einer Irin verheiratet. 2012 lernte er Macron, damals stellvertretender Generalsekretär im Élysée-Palast, auf einer Investorenkonferenz kennen.
Das Rentenreform-Aus schmerzte ihn
Lescure wird dem linken Flügel des Präsidentenlagers zugerechnet. In den Haushaltsverhandlungen mit den Sozialisten ist das keine Erfolgsgarantie, aber durchaus von Vorteil. Es schmerze ihn als langjährigen Macron-Anhänger, dass die Rentenreform dran glauben musste, gab der Minister öffentlich zu Protokoll. Doch Kompromisse seien nun mal schwierig, ergänzt man in seinem Umfeld. Schon überhaupt einen Haushalt hinzubekommen, sei bei den aktuellen Mehrheitsverhältnissen ein Erfolg.
Die Finanzmärkte schenkten Lescure bislang Vertrauen. Der Risikoaufschlag auf französische Staatsanleihen notiert im Vergleich zur Bundesanleihe weiterhin deutlich niedriger als bei seiner Berufung im Oktober. Doch Lescure ist erfahren genug, um zu wissen, dass sich der Wind schnell drehen kann. „Es ist Aufgabe des Parlaments, dafür zu sorgen, dass das Defizit 2026 unter fünf Prozent bleibt“, stellte er klar – ohne sein ursprüngliches Ziel von 4,7 Prozent überhaupt noch zu erwähnen.
Blickt man auf die letzten Eckdaten aus den Haushaltsverhandlungen, läuft es jedoch eher auf 5,3 Prozent Defizit hinaus. Um noch unter fünf Prozent zu kommen, müssten im Umfang von rund neun Milliarden Euro Steuern erhöht oder Ausgaben gekürzt werden. Eine Einigung darüber ist den Parteien nun erst einmal nicht gelungen. Ob im neuen Jahr gelingt, was in diesem misslang, ist höchst ungewiss. Es wäre wahrlich nicht die erste Defizitverfehlung der vergangenen Jahre, aber in jedem Fall eine, die das Vertrauen in Frankreichs Finanzpolitik weiter erodieren ließe.