Rock’n’Rollator: Ist jener Rock ’n’ Roll nachdem 70 Jahren am Ende – oder nur totgesagt?

Niemand kann sagen, wann der Rock’n’Roll wirklich erfunden wurde: März 1951 vielleicht, als Rocket 88 von Jackie Brenston and His Delta Cats veröffentlicht wurde. Oder Juli 1954, als Elvis Presley, Scotty Moore und Bill Black aufhörten, zwischen den Aufnahmen in den Sun Studios Quatsch zu machen und „That’s All Right“ durchhämmerten, was zur ersten Single des zukünftigen King wurde.

Aber das Jahr, in dem Rock ’n’ Roll wirklich zu Rock ’n’ Roll wurde, war vor 70 Jahren: 1955 brach Little Richard mit „Tutti Frutti“ über die Welt herein; es kam zu den ersten Ausschreitungen bei einer Elvis-Show; „Blue Suede Shoes“ von Carl Perkins und „Maybellene“ von Chuck Berry wurden veröffentlicht; Bo Diddley verewigte seinen Namen in einem Liedtitel; in den USA war „Rock Around the Clock“ von Bill Haley & His Comets der Hit des Jahres. In Großbritannien soll seine Präsenz auf dem Soundtrack des Teensploitation-Films „The Blackboard Jungle“ Teddy Boys zu Ausschreitungen gebracht haben, bei denen Kinosäle verwüstet wurden.

Vom Kult der 50er zum Nostalgie-Cosplay

Tatsächlich war 1955 Mittelpunkt eines so einschneidenden popkulturellen Augenblicks, dass alle über 40 fast sicher irgendwie mit Rock ’n’ Roll im Hintergrund aufgewachsen sind. In the 1970ern waren Gruppen wie die Stray Cats, Showaddywaddy, Matchbox und Darts regelmäßig ganz oben in den Charts. Shakin’ Stevens war der Musiker mit den am meisten verkauften Singles der 80er. Viele andere Rock’n’Roll -Revivalists landeten ebenfalls Hits. Punks machten Cover-Versionen von alten Rock’n’Roll-Songs – und Punks Rock’n’Roll-Mutation Psychobilly war eine der größten Jugend-Kultbewegungen Anfang der 80er.

Auch danach noch nahmen zeitgenössische Hits wie George Michaels „Faith“ oder „Love Machine“ von Girls Aloud weiter Bezug auf Rock’n‘Roll, ohne ein Revival anzustreben. In KT Tunstalls Lied „Black Horse and the Cherry Tree“ kommt Bo Diddleys „Shave and a haircut, two bits“-Rhythmus zum Einsatz.

Es sind nur die immer gleichen 20 Bands, die jede Woche dieselben 20 Lieder spielen. Sie haben kein Interesse an Innovation

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Aber heute ist der Rock’n’Roll in Gefahr, zu verschwinden. „Außer den Kindern von Rock’n’Rollern gibt es niemanden, der den Platz der Musiker einnehmen könnte, die wegsterben“, sagt John Hopkins, der frühere Herausgeber des britischen Rock’n’Roll Magazine, das er dieses Jahr aufgeben musste. Als Beispiel nennt er die Rockers Reunion im Januar, das erste große Rock’n’Roll-Tages-Event des Jahres in Großbritannien. „Mein Kritiker hielt den Eindruck fest, dass alle an Gehstöcken und Rollatoren unterwegs zu sein schienen.“

Dabei ist Pop aus der Zeit vor den Beatles nicht völlig verschwunden. Die US-amerikanische Sängerin Lana Del Rey hat ihre Karriere darauf aufgebaut. Laufeys Neo-Bossanova und Jazz-Popballaden sind ein Riesenerfolg. Stephen Sanchez‘ weltweiter Hit Until I Found You könnte ebenso gut eine verloren gegangene Aufnahme aus dem Jahr 1958 sein.

In Großbritannien haben George Ezra und Jake Bugg von ihm abgeschaut und tendieren ab und zu in Richtung Rockabilly, wie Ezra in seinem Song „Cassy O’“. Dazu taucht überall Vintage-Soul auf. Aber Rock’n’roll, in dem Sinne wie ein Teenager ihn vor 70 Jahren verstanden hätte? Weniger. Wenn man dieser Tage die Worte Rock’n’roll hört, bedeuten sie tendenziell, sich als rau und tough zu präsentieren: keine mit Pomade gestylten Haare, sondern Themen-Bars mit tätowierten Barkeepern und Guns N’ Roses aus der Jukebox.

Der einzige Ort in Großbritannien, an dem die alten Rock’n‘Roll-Werte noch hochgehalten werden, ist laut Hopkins die sogenannte „Fluffy“-Szene – im Grunde genommen ein Cosplay des Jahres 1955. „Aber es sind immer dieselben 20 Bands, die jede Woche dieselben 20 Songs spielen. Es geht ihnen nicht um Innovation. Das ist eine nette Veranstaltung, aber es ist keine Musik.“

Eine Subkultur am Rande der Aufmerksamkeit

Wie konnte das einem der energiegeladensten und die Grenzen ständig verschiebenden Musikstile der Geschichte passieren? Experten meinen, dass sich die Rock’n’Roll-Szene verhärtete, als sie aus dem Rampenlicht geriet, und sich dann vermutlich selbst abgeschnitten hat. „Rock’n’Roll und Rockabilly haben einige sehr strikte Regeln dazu, was erlaubt ist und was nicht“, erklärt Rupert Orton, Gitarrist in der englischen Rock’n’Roll-Band Jim Jones Revue, die in den 2000er Jahren eine extrem energiegeladene, punkige Variante spielte. „Aber auf sehr langsame Art und Weise gibt es doch Veränderung.“

Orton bleibt hinter den Kulissen aktiv. Er organisiert das jährliche Red Rooster Festival, das dem Genre gebührende Aufmerksamkeit schenkt. Rock’n’Roll, betont er, sei wie so viele andere andauernde Subkulturen seit langem überwiegend eine Freizeitbeschäftigung der Arbeiterklasse. Als Autor und Redakteur weiß ich, dass das bedeutet, dass die traditionellen Medien sich weniger dafür interessieren.

Auch scheint die Hardcore-Rock’n’Roll-Szene Interesse von außen gegenüber nicht offen zu sein: Ich habe für diesen Artikel die Organisatoren mehrerer Rock’n’Roll-Wochenenden kontaktiert, aber keine Antwort bekommen. „Sie sind sehr abgeschottet“, bestätigt Hopkins. „Als ich bei der Zeitschrift anfing, ging ich zu einer Veranstaltung und fühlte mich wie ein Außerirdischer. Es war sehr schwierig, Leute kennenzulernen.“

Um einen Eindruck davon zu geben, wie marginalisiert Rock’n’Roll in Großbritannien ist, nehmen wir einen seiner herausragenden jungen Vertreter. Dylan Kirk aus Kent ist 25 und seine Band Dylan Kirk & the Killers sind Stars der Rock’n’Roll -Szene, die bei Wochenendveranstaltungen und in Clubs spielen. Er hat zwischen 30 und 40 Auftritte im Jahr. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs suchte er gerade einen neuen Job, um seinen derzeitigen in einem Pub zu ersetzen. Es ist nicht die Welt, in der der große Durchbruch direkt um die Ecke wartet.

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Elvis bleibt das Maß aller Dinge

Kirk kam, wie könnte es anders sein, über seine Eltern zum Rock’n’Roll und brachte sich dann selbst bei, ihn auf dem Klavier zu spielen. Seine Eltern waren sogar der Auslöser dafür, dass er aufzutreten begann. „Mein Dad sagte eines Tages im Auto: ‘Ich war in einer Kneipe, die ein Klavier hat. Wir fahren da jetzt hin und du spielst darauf.‘ Ich war zu schüchtern, um zu singen, aber das war das erste Mal, dass ich vor Leuten spielte – nur einen kurzen Boogie-Woogie.”

Und wer ist sein Publikum? Sind auch Jüngere darunter? „Die Leute, vor denen ich heute auftrete, waren Teil des Rock’n’roll-Revivals der 70er und 80er Jahre. Aber es gibt auch junge Leute, sogar Teenager. Ich glaube, für die meisten der Jüngeren ist es ein Lifestyle – es geht nicht um die Musik, sondern um die Mode.”

Und dennoch bleibt die unbeantwortete Frage: Auch wenn es nicht viele junge Musiker gibt, die Rock’n’Roll spielen, warum ist der so gründlich aus dem Rezeptbuch des Pops verschwunden? „Das frage ich mich wirklich“, sagte Kirk. „Ich finde es merkwürdig, dass er nicht zu hören ist.“

Vielleicht aber ist Rock’n’Rolls größtes Problem, dass alle zu wissen meinen, was das ist, und es in einem Wort definieren zu können: Elvis. Ja, die Leute kennen meistens auch noch ein paar andere Songs – von Little Richard, Jerry Lee Lewis oder Chuck Berry – aber Elvis scheint alles zu sein, was sie brauchen.

Da waren junge Leute, vermutlich keine 20 Jahre alt. Die sahen aus, als kämen sie direkt aus dem Film Der Wilde

Nehmen Sie Baz Luhrmanns hyperstilisierten Biopic und die Art und Weise, wie das Innere von Elvis‘ Lebens weiterhin durchwühlt wird. Es gibt kein Musikgenre, das so sehr mit einer einzigen Figur verknüpft ist, die zudem seit 48 Jahren tot, aber weiterhin – um Längen – der kommerziell erfolgreichste Rock’n’Roll-Musiker der Gegenwart ist.

Nicht nur das Altern der Fans ist ein Problem für den Rock’n’Roll, sondern auch das Altern der Musikindustrie. Seit Jahrzehnten waren Plattenfirmen und Aufnahmestudios voll mit Leuten, die mit Rock’n’Roll aufgewachsen waren, sei es als prägende Erfahrung oder als Hintergrundrauschen. Jetzt sind die Produzenten, die einen Bo Diddley-Backbeat oder eine Rockabilly-Twang-Gitarre hätten vorschlagen können, in Rente, und die A&R-Verantwortlichen der großen Plattenlabels, die über Künstler und Repertoire entscheiden, verlassen sich eher auf Algorithmen und Daten als auf ihren persönlichen Geschmack.

Außerhalb Großbritanniens ist Rock’n’Roll immer noch eine starke Subkultur. Orton weist auf das jährliche Festival „Rockin’ Race Jamboree“ in der Stadt Torremolinos an der spanischen Costa del Sol hin. Es zieht mit seinen fünf Tagen voll Rock’n’Roll, Folkmusik und damit verbundenen Aktivitäten bis zu 30.000 Leute an (Kirk wird im nächsten Jahr dort auftreten). „Es ist wirklich unglaublich“, sagt Orton. „Da waren junge Leute, vermutlich keine 20 Jahre alt. Die sahen aus, als kämen sie direkt aus dem Film Der Wilde“, der 1953 Marlon Brando als Chef einer Rockerbande zeigte.

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Der Rock’n’Roll braucht ein Jetzt-Gefühl

Schweden ist bekannt für Raggare, eine Subkultur, die die 50er und 60er Jahre feiert. Mit Enviken gibt sogar eine kleine „Rockabilly-Ortschaft“, die für ihre Nostalgie für diese Zeit in der Vergangenheit berühmt ist. Spotify kann Ihnen eine wirklich spannende Playlist mit schwedischem Rock’n’Roll zusammenstellen. Aber selbst dort sind es offenbar nur die Kinder der Rock’n’Roll-Revival-Anhänger, die die Traditionen fortsetzen.

Noch könnten die USA, die auch sein Geburtsort sind, den Rock’n’Roll retten. JD McPherson aus Tulsa im Bundesstaat Oklahoma kam ursprünglich aus dem Rock’n’Roll und weitete sein Repertoire dann auf andere ältere Arten der US-amerikanischen Musik aus. McPherson bemerkte, dass sein Publikum jünger wurde, besonders nachdem er vor einigen Jahren ein Weihnachtsalbum veröffentlicht hatte.

Auch bei seiner Arbeit als DJ begannen die alten Rock’n’Roll-Nummern, die er am Ende des Abends als Rausschmeißer auflegte, plötzlich die Tanzfläche zu füllen. Er glaubt, dass Rock’n’Roll zurückkehren kann. „Es muss jemand sehr Gutes sein, der die Rhythmen und Motive der Musik zu nutzen weiß, aber dem Ganzen ein Jetzt-Gefühl verleiht.“

Aber wieso sollte das geschehen? „Bei Country-Musik ist es definitiv passiert – in Form von neo-traditionellem Country“, erzählt er und verweist auf Künstler wie Zach Top, die Country-Musik wieder auf Trommeln, Bass, Gitarre, Geige und Pedal Steel reduzieren. Und natürlich hat die Musik vieler Country-Superstars – die derzeit die Arenen in Großbritannien füllen, wie beispielsweise Chris Stapleton – starke Rock’n’Roll-Einflüsse.

Junge Künstler könnten das Genre wiederbeleben

Er selbst sei „ein bisschen zu alt“, um noch in die Arena zu steigen, meint McPherson. „Aber ich glaube, dass irgendwann etwas passieren wird. Es muss etwas Echtes haben und es muss jemand sein, der das Genre wirklich liebt. Und vielleicht wird es auch gar nicht Rock’n’roll genannt. Wenn, dann wird es zufällig passieren.”

Vielleicht könnte der neue Impuls sogar aus Großbritannien kommen. Ein möglicher Kandidat ist der in Bury geborene, Elvis verpflichtete Singer und Songwriter Elliot James Reay, der mit 23 Jahren auf Millionen Streams seiner Retro-Melodien kommt. Das richtige Aussehen und den richtigen Kleidungsstil für die Rolle hat er schon einmal.

Seine sechs bisher veröffentlichten Lieder gehen zwar auch eher in Richtung Pop vor den Beatles anstatt echtem Rock’n’Roll. Aber alles, was fehlt, ist der eine Song, der mehr „Hound Dog“ ist als „Love Me Tender“. Und schon wären wir so weit. Schließlich ist Rock’n’Roll, wie Chuck Berry sang, gar nicht so schwer: Er hat einen Backbeat, den man nicht verlieren kann, wann immer man sich entscheidet, ihn zu spielen.

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