Kurz bevor der deutsche Vizekanzler die Ukraine verlässt, sieht er den Krieg mit eigenen Augen. Er sitzt in seinem gepanzerten Wagen, die Grenze zur Republik Moldau ist nur noch eine Autostunde entfernt, als er auf der linken Seite eine riesige Rauchwolke erblickt. In einem Hafen bei Odessa sind gerade russiche Raketen eingeschlagen, das Feuer ist noch nicht gelöscht. Diesmal war es also kein Fehlalarm, anders als am frühen Morgen, als Habeck um 4 Uhr 40 früh in den Luftschutzkeller des Kiewer Interconti-Hotels flüchten musste, weil die Warn-App Alarm schlug: „Deine Selbstüberschätzung ist deine Schwäche“, so tönt eine künstliche Männerstimme aus dem Mobiltelefon, auf dass die Leute den Hinweis auch nicht überhören.
Aus Robert Habecks Sicht hätte es dieses Augenscheins nicht bedurft, um mit Blick auf die bevorstehende Ukraine-Wiederaufbaukonferenz zu einem ziemlich einschneidenden Schluss zu kommen. Als er am Vortag den Staatspräsidenten Wolodimir Selenskyi in dessen Kiewer Amtssitz traf, schlug er ihm vor, das Treffen auf den Ausbau der Rüstungsindustrie zu fokussieren: In einer Lage, in der das Land den Krieg gegen den russischen Autokraten Wladimir Putin zu verlieren droht, sei das schließlich die Voraussetzung dafür, dass es hinterher überhaupt noch etwas aufzubauen gebe.
Er wolle darüber nachdenken, hatte Selenskyi in dem Gespräch am vorigen Donnerstag gesagt. Die Antwort kommt wenig später über das Nachrichtenportal „X“. Er habe mit dem deutschen Vizekanzler auch über die Ukraine-Wiederaufbaukonferenz gesprochen, teilt der Präsident nun öffentlich mit. „Wir haben übereingestimmt, uns auf den Komplex der Verteidigungsindustrie zu fokussieren“, schreibt er.
Da ist es gerade mal einen Tag her, dass Habeck im Bahnhof des ostpolnischen Städtchens Przemysl, einem Prachtbau aus den Zeiten der habsburgischen Vielvölkermonarchie, einen etwas plüschigen Salonwagen der ukrainischen Eisenbahn bestiegen hat. Decke und Wände sind mit imitiertem Stuck aus Kunststoff verziert, die aus Sicherheitsgründen verdunkelten Fenster mit glitzernden Vorhängen verhängt, die Schlafwagenschaffnerin serviert Platten mit aufgeschnittenem Speck, Graubrot und frischen Tomaten. Es handelt sich um einen jener Nachtzüge, wie sie schon Bundeskanzler Olaf Scholz, das französische Staatsoberhaupt Emmanuel Macron oder US-Präsident Joe Biden auf ihrer Fahrt nach Kiew benutzt hatten, vor ziemlich genau einem Jahr auch Habeck schon mal.
Im Salonwagen steht, weil die Sitzplätze für die Delegation nicht ausreichen, auch Helmut Rauch, Chef des Waffenherstellers Diehl Defence aus Überlingen am Bodensee, ein Mann, dem man seine süddeutsche Dialektfärbung deutlich anhört. Dem Minister ist wichtig, dass die anwesenden Journalisten auch mitbekommen, was Rauch sagt. Es ist nicht allzu lange her, dass sich Politiker gleich welcher Partei mit Leuten wie ihm lieber nicht öffentlich zeigten. Aber Diehl stellt etwas her, was die Ukraine dringend braucht, und der deutsche Wirtschaftsminister wünscht sich, dass sie es auch bekommt: Luftabwehrsysteme des Typs Iris-T.
Nicht bei der Theorie stehen bleiben
An Bord ist auch Florian Seibel, der Chef des Münchener Drohnen-Start-ups Quantum-Systems, der in der Ukraine eine neue Fabrik einweiht. Die Modernisierung der Rüstungsindustrie im Land zählt jetzt, neben dem durch russische Angriffe gebeutelten Energiesektor, zu den Schwerpunkten der ökonomischen Zusammenarbeit. Die Waffenproduktion anzukurbeln oder für mehr Ausstoß und Aufträge zu werben, das ist eines der Hauptziele Habecks auf dieser Reise.
„Es ist immer heikel, darüber zu reden, ich tue das auch nicht leichtherzig“, beginnt er, als er kurz vor dem Rückflug in der südlichen Oblast Mykolajiw noch den dortigen Gouverneur Vitalii Kim trifft, dessen koreanischer Vater einst als Basketballspieler in die damalige Sowjetunion gekommen war. „Wir brauchen eine höhere Produktion, dann haben wir auch mehr Güter, die wir abgeben können. Wenn die Ukraine sie mal nicht mehr braucht, dann können wir sie selbst gut gebrauchen. Da darf es nicht bei der Theorie stehen bleiben, es muss entsprechend auch in die Tat umgesetzt werden.“
Ein grüner Wirtschaftsminister als Handlungsreisender für die Rüstungsbranche, das ist für manche trotz allem noch eine neue Idee. Der sozialdemokratische Vor-Vorgänger Sigmar Gabriel hatte noch wegen ein paar Ausfuhren nach Saudi-Arabien größeren Ärger bekommen, auch mit Leuten aus der eigenen Partei. Für Habeck ist das auch ein Weg, mit den Mitteln seines Ressorts ein Zeichen zu setzen für Dinge, die er in der Regierung als Ganzes nicht durchsetzen kann: für Waffenlieferungen an die Ukraine in größerem Stil als bisher. Nach dem unerquicklichen Streit um die Taurus-Marschflugkörper ist die Regierung zwar entschlossen, den öffentlichen Disput über das Thema einzustellen. Aber die Botschaft, die Habeck mit seinem nunmehr dritten Ukrainebesuch senden will, erschließt sich auch ohne direkte Attacken gegen den Kanzler.
Der Krieg muss gewonnen werden
Am vorigen Donnerstagvormitttag steht er im Foyer eines Kiewer Regierungsgebäudes, diesmal ist der Stalinbarock um ihn herum immerhin echt und kein Plaste-Imitat wie im Zug. Neben ihm steht die ukrainische Vizeministerpräsidentin. Die Ukraine müsse den Krieg so führen können, „dass er nicht verloren geht, dass er gewonnen wird“, sagt er. Diese Spitze gegen den Kanzler, der das Wort vom Gewinnen nicht in den Mund nehmen mag, muss dann doch sein. Während Olaf Scholz auf seiner Chinareise jüngst zeigte, wie sehr sich bei ihm das Allgemeinpolitische immer auch ums Ökonomische dreht, demonstriert Habeck, wie sehr er die Wirtschaftspolitik als Ableitung des Allgemeinen versteht.
Für Habeck ist es die dritte Reise ins Land. Auch andere Grünen-Politiker hatten die Ukraine in der Abwehr der sowjetischen Aggression früh unterstützt, schon in der Zeit nach der Krim-Annexion 2014 war das örtliche Büro der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung eine zentrale Anlaufstelle gewesen. Bei seinem Antrittsbesuch in Berlin traf der heutige Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj auch die Grünen-Führung.
Schon zu diesem Zeitpunkt war von einer großen Nähe zwischen der damaligen deutschen Oppositionspartei und der neuen ukrainischen Regierung die Rede, man erkannte sich gewissermaßen als Gleichgesinnte. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem viele in Deutschland noch die Qualifikation eines Komikers für das Amt des Staatspräsidenten anzweifelten. Auch Kanzlerin Angela Merkel schien damals nicht überzeugt.
Wer Waffen braucht, der muss sie irgendwie produzieren
Habeck reiste erstmals im Mai 2021 in die Ukraine, als er noch Parteichef in der Opposition war und Russland seinen Angriff auf das ganze Land noch nicht begonnen hatte. Er forderte bereits damals die Lieferung von Waffen, von „Defensivwaffen“, wie er vorsichtig formulierte – und zwar nicht von Gefühlen übermannt nach einem Besuch an der Front im schon damals umkämpften Donbass, wie betont wird, sondern bereits auf dem Weg dorthin. Fürsprecher fand er seinerzeit nur wenige, innerhalb wie außerhalb der Partei.
Wie sich spätestens nach dem Beginn des großen Kriegs 2022 zeigte, lag das bei den Grünen allerdings längst nicht mehr an einem prinzipiellen Pazifismus. Diese Frage war spätestens geklärt, seit die Partei 1999 dem Kosovokrieg zustimmte. Auf dem Parteitag ließ ein Farbbeutelwurf zwar dem damaligen Außenminister Joschka Fischer das Trommelfell platzen, an der Entscheidung änderte das nichts. Fischer hatte das damals moralisch begründet, statt „Nie wieder Krieg“ müsse „Nie wieder Auschwitz“ stehen, also das Eintreten gegen Völkermord. Darüber gibt es innerhalb der Partei keinen Dissens, im Eintreten für die Ukraine stehen sich Habeck und seine innerparteiliche Konkurrentin Annalena Baerbock in kaum etwas nach.
Neu ist also weniger die grüne Solidarität mit einer überfallenen Demokratie im Widerstand gegen eine aggressive Autokratie. Neu an Habecks jüngster Reise ist tatsächlich mehr der Auftritt als Handlungsreisender für die Rüstungsbranche. Das unterscheidet ihn als Wirtschaftsminister dann doch schon qua Amt von den Auftritten der Außenministerin. Aus Habecks Sicht macht das keinen Unterschied, denn wer Waffen braucht, der muss sie irgendwie auch produzieren. Aber für viele Grüne ist es immer noch gewöhnungsbedürftig, wenn sich moralisch begründete Militärfragen mit Gelddingen vermengen.
Ein Meer aus kleinen Fähnchen erinnert an die Gefallenen
Vor einem Jahr war Habeck abermals in die Ukraine gereist, damals schon als Minister, und traf Selenskyj in einem Krankenhaus mit verwundeten Soldaten. Geschundene Körper, abgerissene Beine und Arme, leere Blicke, Tapferkeitsmedaillen von einem Präsidenten, dem gleichfalls die Stimme brach. Die Atmosphäre war gedrückt seinerzeit, obwohl die militärische Lage für die Ukraine stabiler erschien und viele auf eine bevorstehende Offensive hofften.
Diesmal ist die Lage schlechter, die Truppen an der Front haben zu wenig Munition, nur ein Zehntel der russischen Kapazität, wie es heißt. Die Zahl der Luftangriffe auf ukrainische Städte hat wieder zugenommen. Aber bei den Treffen im Präsidentenpalast ist die Stimmung diesmal weniger trüb, vielleicht auch deshalb, weil Habeck und Selenskyj diesmal im Kiewer Amtsgebäude reden und nicht in einem Lazarett. Der Präsident lächelt, als er in seiner olivgrünen Kriegsherren-Kluft den ganz in schwarz gekleideten Vizekanzler begrüßt.
Vor dem Michaelskloster schreitet Habeck gemeinsam mit der ukrainischen Vizepräsidentin auch diesmal wieder die Wand mit den Fotos der Soldaten ab, die seit dem Beginn der Kämpfe in der Ostukraine 2014 gestorben sind. Sie war allerdings beim letzten Mal noch deutlich kürzer. So sehr Habeck diesmal auch ein Kiew erlebt, in dem auf der Oberfläche friedlicher Alltag herrscht, so sehr sind der Krieg und seine Opfer doch überall präsent.
Auf dem Weg zur Regierung macht er auf dem Maidan spontan Halt, dem Platz, auf dem Ende 2013 alles begann: Der Weg nach Europa, den die Demonstranten hier erstritten, beantwortete Wladimir Putin kurz darauf mit der Annexion der Krim und dem hybriden Krieg in der Ostukraine. Auf der Straße davor erinnert heute ein Meer aus kleinen Fähnchen an die Gefallenen. Der deutsche Minister ist in diesem Moment ziemlich weit entfernt von dem Abrüstungsbericht am Tag zuvor.