Rainer Maria Rilke ist bis heute populär. Zum Jubiläum wartet das Deutsche Literaturarchiv mit einer Rilke-Schau der Superlative auf. Jetzt schaute sogar der Bundespräsident vorbei und entdeckte Rilkes „Welthit“.
Rainer Maria Rilke hat in seinem Dichterleben alles besungen, den Panther im Zoo („und hinter tausend Stäben keine Welt“), den Torso im Museum („Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“), das Kinderkarussell („Und dann und wann ein weißer Elefant“). Und dann und wann zerfließt das alles im eigenen Kopf, und man fragt sich, ob Rilke mit all diesen Versen nicht auch einen Spitzenpolitiker gemeint haben könnte.
Einen Spitzenpolitiker unter ständiger Begaffung wie Frank-Walter Steinmeier. Der deutsche Bundespräsident ist an diesem Dezembertag auf die Schillerhöhe nach Marbach am Neckar gekommen, um im Deutschen Literaturarchiv (DLA) kluge Bemerkungen zur großen Rilke-Jubiläumsausstellung zu machen. „Ach, der Panther, sein Welthit“, ruft Steinmeier, als ihn Sandra Richter, die Direktorin des DLA, unter Begleitung einiger ihrer Studentinnen, durch die Vitrinen führt. Der Panther ist in Rilkes Notizbuch keine fünf Zentimeter lang. Aber er strahlt Geschmeidigkeit und Kraft wie im Gedicht aus.
Unter dem Motto „Und dann und wann ein weißer Elefant. Rilkes Welten“ feiert man im DLA ein großes Rilke-Gedenkjahr – am 4. Dezember 2025 war der 150. Geburtstag des Dichters, am 29. Dezember 2026 jährt sich sein 100. Todestag.
Ein Tross an Pressevertretern schaut dem Bundespräsidenten bei seinem Parcours zu. Ist so ein hohes Tier im Staatsamt nicht selbst eine Art Panther im Zoo, gefangen in einem Amt, das ganz auf Repräsentation und auf gnadenlose Beobachtung durch die Öffentlichkeit angewiesen ist? Kein Kommentar, kein Räuspern, kein Naseschnäuzen kann noch diskret vonstattengehen, alles ist ausgestellt. Die bundespräsidiale Herausforderung besteht nun darin, Rilke-Assoziationen zu vermeiden. „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, daß er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“
Dass die Marbacher Rilke-Ausstellung aus dem Vollen schöpfen kann, hat auch mit der Sensation von 2022 zu tun – dem damals erworbenen Bestand des bis dato privaten Rilke-Archivs Gernsbach. Die darin enthaltenen Archivalien fördern noch einmal einen ganz neuen Rilke zutage, etwa seine ausgeprägte Lust am Zeichnen. Von klein auf faszinieren ihn Uniformen, Waffen, Orden und Ehrenzeichen.
Seine kindliche Fantasie ist von Rittern, Landsknechten und Soldaten bevölkert. Marschierend, salutierend, kämpfend. Um 1890/91 tuscht er in leuchtenden Farben einen salutierenden Husaren in schmucker Galauniform mit Säbel und Gerte. Der militärisch korrekte Gruß der Figur steht in eigenartigem Widerspruch zur betont legeren, zivilen Haltung der Beine. Ging es so schillernd zu in der Kavallerie der k.u.k.-Monarchie?
Was seinen Sinn für Kostüme und Kostümierung angeht, war der junge Rilke, der 1875 als Teil der Pragerdeutschen Elite im Habsburgerreich geboren wurde, einerseits familiär geprägt: Seine Mutter erzog ihn, um den Verlust der früh verstorbenen Tochter zu kompensieren, als Mädchen und steckte ihn in Mädchenkleider – die Szene ist in seinem Roman „Malte Laurids Brigge“ einschlägig. Andererseits war Rilke ein Kind Kakaniens, hier wuchs man mit militärischen Idealen auf. Rilke kam bereits 1886 auf die Kadettenschule nach St. Pölten, später auf die Handelsschule Linz. Das Abitur legte er dann wegen einer Affäre in Prag ab. In Paris wurde er später zum Künstler – und dichtete einige seiner berühmtesten Gedichte, darunter den „Panther“ – und „Das Karussell“, das er in seinen Notizbüchern auch zeichnerisch verewigt hat. Dort sieht es eher aus wie eine Kerze als ein Karussell.
Der Vers aus dem Karussell, „Und dann und wann ein weißer Elefant“ gibt der gelungenen, weil nicht nur klassisch-sterilen Marbacher Schau auch den Namen. Die Ausstellung mit dem Untertitel „Rilkes Welten“ ist in fünf Themenbereiche gegliedert. Man kann Rilkes familiäre Verhältnisse auf lebensgroßen Fototafeln besichtigen, seine Lebensstationen – mehr als 100 Wohnorte sind belegt, oft schöne Hotels und Schlösser, den vielen adeligen Freundinnen sei Dank. „Welche Gönnerin hat ihm denn den Aufenthalt auf Schloss Duino gegönnt?“, will der Bundespräsident bei der Vitrine zu den „Duineser Elegien“ wissen. Mäzenatentum und Privat-Sponsoring, wie es Rilke zeitlebens genießen durfte, passt natürlich nur bedingt ins Narrativ einer Zeit, in der Politiker gern öffentliche Gelder für alles und jeden besingen.
Ein Schwerpunkt der Schau liegt auf Rilkes Schreiben – wozu unbedingt auch sein Briefkorpus gehört. „Niemand, niemand (…) ist auf der Welt, der meine Adresse nicht haben sollte“, schrieb Rilke an 1923 an Claire Goll, und das stimmt. Rilke hatte Fans in ganz Europa und bekam Fanpost aus ganz Europa, nicht zuletzt von Frauen.
War Rilke ein Womanizer? Auch mit dieser Frage setzen sich Ausstellung und Begleitkatalog (Marbacher Magazin Nr. 189/190) durchaus ernsthaft auseinander. Sandra Richter, Direktorin des DLA und Literaturwissenschaftlerin, die auch eine Rilke-Biografie vorgelegt hat, erinnert an Rilke-Freundinnen, die hart urteilten, er sei hässlich gewesen: „seine großen Augen“, „das fliehende Kinn“. Der Schriftsteller im Zeitalter seiner fotografischen Reproduzierbarkeit beschäftigt die Öffentlichkeit eben schon lange nicht mehr nur textuell, sondern auch paratextuell – als visuelle und soziale Erscheinung. Rilke habe Frauen nicht zuletzt durch seine Stimme, seine Briefe und natürlich seine Verse beeindruckt.
Zum Hit der Ausstellung zählen Rilkes erstmals öffentlich präsentierte Notizbücher, die oft klitzeklein vollgeschrieben sind, mal mit Bleistift, mal mit Tinte. „Das können Sie lesen?“, fragt der Bundespräsident. Bei den Manuskripten zu Rilkes Paris-Roman „Malte Laurids Brigge“ will er wissen: „Das ist ziemlich autobiografisch, oder?“. „Autofiktional sagt man heute“, antwortet Sandra Richter und bekräftigt: Ja, die Figur Malte sei in großen Teilen Rilkes Alter Ego.
Ob Rilke über seine Freundin Lou Andreas-Salomé auch Kontakt zu Sigmund Freud gehabt habe, fragt der Bundespräsident einmal und bekommt von Sandra Richter zu hören, dass Rilke von Psychoanalyse eher wenig hielt. Eine „desinfizierte Seele“ brauche er nicht, das wäre der Kunst nach seinem Verständnis im Wege gestanden.
Rilke, der Superstar
Last but not least zeigt die Ausstellung auch Rilkes Vernetzung im europäischen Kunst- und Literaturbetrieb seiner Zeit. Denn anders als das Image lange glauben machen wollte, war Rilke kein weltentrückter Dichter. Er verkehrte im Künstlerdorf Worpswede, er bewunderte Auguste Rodin in Paris (schrieb sogar dessen Biografie), er reiste nach Russland, Capri und Skandinavien, und er hatte – hat bis heute – eine immense Wirkung auf andere Künstler. Popstars wie Lady Gaga oder der koreanischen Sänger Jimin tragen Rilke-Sprüche als Tattoos, und auch viele Schriftstellerkollegen weltweit berufen sich auf Rilke.
Unter dem Motto „Rilke international. Zeitgenössische Echos auf Rilkes Lyrik“ (Marbacher Magazin Nr. 187/188) hat das Deutsche Literaturarchiv Lyriker eingeladen, Rilke weiterleben zu lassen. Hier schickt Dagmara Kraus den „Gangwolf“ ins Rennen, einen imaginierten Schaffner bei der Deutschen Bahn, der wie ein durch die Gänge streunenden Raubtier seinen Dienst versieht und sich am Ende vielleicht auch wie weiland im Rilke-Gedicht „Torso Apollos“ sagt: „Du musst dein Leben ändern.“ Ob sich das auch ein Bundespräsident sagt, der mit seinem Tross schon längst wieder weitergezogen ist? Ob er etwas von Rilke zitieren könne, wird das Staatsoberhaupt noch im Abgang von einer Journalistin gefragt. Steinmeier wittert die Falle: „Gedichte sage ich nur Weihnachten auf“.
Die Rilke-Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach läuft bis Januar 2027. Buchtipp (neben den genannten Katalogen): „Rilke zeichnet“ (Die Andere Bibliothek).
Source: welt.de