Richtiges Kleben will gelernt sein

Anton zieht den Super­kleber aus seiner Tasche. „Wer möchte?“ Sein Blick geht durch die Runde. Kurzes Zögern, dann meldet sich der 23-jährige Pascal. Er verteilt ein paar Tropfen auf seinem Finger, ganz vorsichtig. Es ist das erstes Mal, dass er sich auf den Asphalt klebt. Der junge Mann geht in die Knie. „Such dir immer eine Stelle, die glatt ist, wie zum Beispiel Straßen­markierungen“, weist ihn Anton an. ­Pascal nickt und presst den Finger auf den Boden. Und klebt fest.

Sarah Huemer

Redakteurin im Ressort „Wert“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Kurz darauf löst Pascal seinen Finger wieder und kratzt sich die Kleberreste vom Finger. Die Übung ist geschafft. Pascal ist einer von mehreren Teilnehmern, die sich an diesem Dienstagabend im baden-württembergischen Heilbronn zu einem sehr speziellen Training zusammengefunden haben: Sie werden zu Klimaklebern ausgebildet und lernen, die Straßen Deutschlands zu blockieren.

Ein Training, um die Hauptstadt lahmzulegen

Die Teilnehmer wollen sich der Aktivistengruppe „Letzte Generation“ an­schließen, manche von ihnen gehören sogar schon dazu. Die Bewegung legt seit einigen Monaten regelmäßig den Verkehr lahm. Auf diesem Weg will sie ihre Forderungen durchsetzen. Dazu gehören etwa ein Tempolimit, der Ausstieg aus fossilen Energien und die Gründung eines Gesellschaftsrats, in den die Bürger per Los einberufen werden und Klimaschutzmaßnahmen ausarbeiten sollen. Seit ein paar Tagen haben die Aktivisten ihre Aktionen massiv verstärkt, vor allem in Berlin. Sie wollen die Hauptstadt zum Stillstand bringen, sagen sie.

Die Teilnehmer des Protesttrainings in Heilbronn bereiten sich auf die nächste Klebeaktion vor. : Bild: Ilkay Karakurt

Hinter jeder Klebeaktion steckt ein genau durchdachter Plan. Damit nichts schiefgeht, muss jeder Teilnehmer zumindest einmal ein Protesttraining absolvieren – wie jenes in Heilbronn. Der 31-jährige Anton Richter ist extra aus Saarbrücken angereist, um die Übung zu leiten. Er weiß, wie es geht, schließlich hat er schon einige Blockaden mitgemacht. Freunde haben ihn dazu bewegt, sich der „Letzten Generation“ anzuschließen. Hier fühlt er sich in seinem Frust, dass die CO2-Emissionen immer weiter steigen, verstanden. Hier hat er das Gefühl, etwas bewirken zu können.

Wie ein großer Rebell sieht Anton nicht unbedingt aus. Er trägt kurze dunkle Haare, eine blaue Hose und einen schwarzen Hoodie. Sein Geld verdient er als Musiker, er spielt in einem Orchester. Nun, im Protesttraining, übernimmt er den Dirigierstab und will den Teilnehmern in mehreren Schritten beibringen: Wie klebe ich mich richtig fest? Was mache ich, wenn mich wütende Autofahrer anbrüllen? Und welche Rechte habe ich, wenn mich die Polizei einsperrt?

Haftstrafe? Jetzt erst recht

Im Gemeinschaftsraum des Heilbronner Gewerkschaftshauses finden sich längt nicht nur junge Aktivisten ein. Da ist die 67-jährige Gisela, die schon an mehreren Protesten teilgenommen hat und sich mit Gleichgesinnten austauschen möchte. Da ist der 83-jährige Max, der zwar nicht mitkleben will, den anderen aber seine Unterstützung ausspricht. Und dann ist da noch Ulrike, 56 Jahre alt, Mutter – und womöglich bald Häftling. Am Tag zuvor hat das Gericht sie zu einer Freiheitsstrafe von mehreren Monaten verurteilt, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es ist eine der heftigsten Strafen in Deutschland, die bisher in einem solchen Fall ausgesprochen wurde. Ulrike treibt das nur noch mehr an. „Ich bin motivierter denn je.“ Von den anderen Teilnehmern bekommt sie dafür zustimmendes Klopfen auf den Tisch und anerkennende Blicke. Wer sich der „Letzten Generation“ anschließt, geht bewusst das Risiko ein, verhaftet und bestraft zu werden.

Ulrike spielt einen wütenden Autofahrer, der die Klimakleber von der Straße zerren will. : Bild: Ilkay Karakurt

Auf welche Kreuzung, auf welchen Zebrastreifen sie sich kleben, das erfahren die Protestteilnehmer selbst erst kurz vorher, erklärt Übungsleiter Anton. Das laufe in etwa so ab: In Chatgruppen tauschen sie sich regelmäßig aus. All jene, die an einem Protest teilnehmen wollen, treffen sich am Abend davor, um die Details zu besprechen und die Aufgaben festzulegen. Die „Letzte Generation“ bedient sich dabei Codenamen aus der Tierwelt: Bienen sind all jene, die ausschwärmen und sich auf der Straße festkleben. Die Bienenkönigin ist die Koordinatorin einer Aktion und weiß als Einzige bereits am Vortag, wo geklebt wird. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, damit die Polizei nicht vorher davon erfährt. Und dann sind da noch die Hummeln. Sie machen vom Bürgersteig aus mit, filmen die Klebeaktion und verbreiten die Aufnahmen in den sozialen Medien. Zusätzlich tragen sie sogenannte Aktionshandys, über die sie in Kontakt mit der Zentrale der „Letzten Generation“ bleiben und über das Geschehen informieren.

Wütende Autofahrer gekonnt ignorieren

Ruhig, mit ernster Miene, trägt Anton vor, was es bei den Aktionen zu beachten gibt: „Klebt euch erst fest, wenn die Polizei da ist!“ Die Gefahr sei zu groß, dass wütende Autofahrer auf die Teilnehmer losgehen würden und niemand da sei, um die Situation zu beruhigen. „Widersetzt euch der Polizei, wann immer es geht!“ Es soll schließlich eine Protestaktion sein. Und: „Schreit niemanden an, bleibt freundlich!“ Die „Letzte Generation“ rühmt sich, die Straßen gewaltfrei zu blockieren.

Um das zu üben, hat Anton ein Rollenspiel vorbereitet. Es soll die Teilnehmer lehren, mit erzürnten Mitmenschen umzugehen. Oder sie schlichtweg zu ignorieren. „Steht auf, ihr Idioten! Mein Vater liegt im Sterben, ich muss hier mit meinem Auto vorbei“, schreit Ulrike. Sie hat die Rolle einer wütenden Autofahrerin zugeteilt bekommen. Pascal und Anton sitzen als Klimaaktivisten am Boden, ohne jegliche Regung im Gesicht, ohne sich zu bewegen. Ulrike schubst die beiden, zerrt an ihnen. Ohne Erfolg. Sie bleiben.

Erstmal probieren die Aktivisten das Kleben nur mit der Fingerspitze. : Bild: Ilkay Karakurt

Ob sie das auch in einem echten Protest so durchziehen würden? Haben sie gar kein Verständnis für eine solch tragische Situation? Auf diese Frage hin gibt Anton zu, dass das Beispiel ein Extremfall sei. „Wenn uns jemand glaubhaft vermittelt, dass es einen Notfall gibt, räumen wir die Straße.“ Auch Rettungsgassen für Krankenwagen müssten immer möglich sein. Er fühle mit den Menschen mit, die er als Klimakleber von einem dringenden Termin abhält. Ihm sei klar, dass viele Menschen die Proteste ablehnen. Er ginge ihm aber auch gar nicht darum, eine Mehrheit dafür in der Bevölkerung zu finden. Das Ziel sei es ja, die Politiker zum Handeln zu bewegen.

Geklebt wird, wenn die Polizei anrückt

Ein Lösemittel haben die Klimakleber beim Protest üblicherweise nicht dabei. Würde ein Auto plötzlich losrasen, sie wären ihm ausgeliefert. Einmal angeklebt, müssen die Aktivisten warten, bis die Polizei sie mit Seifenlauge oder Rapsöl von der Straße löst. Schmerzgriffe und wüste Beschimpfungen habe Anton schon erlebt, als die Polizisten ihn weggetragen haben. Die Rentnerin Gisela hingegen hat andere Erfahrungen ge­macht: „Die sind alle superfreundlich“, schwärmt sie und lacht. Sie ist überzeugt, dass insgeheim auch einige Polizisten ihren Protest unterstützen.

Am angenehmsten sei es, sich klein wie ein Päckchen zu machen und wegtragen zu lassen, rät Anton. Die Beine sind dabei angewinkelt, die Arme unter den Kniekehlen verschränkt. Wer es den „Polizisti“, wie er die Sicherheitsbeamten in gegenderter Form nennt, schwer machen möchte, soll die Muskeln ganz locker lassen und sich wie ein nasser Sack von der Straße schleifen lassen. Auch das üben die Teilnehmer fleißig. Sie wechseln sich ab und geben sich gegenseitig Feedback.

Meditieren, singen und lesen in der Zelle

Die Gefahr, daraufhin in polizeilichen Gewahrsam zu kommen und zumindest für ein paar Stunden in einer Haftzelle zu landen, schreckt die Teilnehmer nicht ab. „Das ist nichts Schlimmes“, sagt Gisela, ihre Mitstreiterin Ulrike nickt eifrig. Psychisch belastend könne so eine Situation aber natürlich sein. Auch hier hat Trainer Anton ein paar Tipps bereit. Gemeinsames Singen könne helfen. Ebenso lohne es sich, ein Buch mitzunehmen, um sich die Zeit in der Zelle zu vertreiben. Oder zu meditieren. Ge­meinsam mit den anderen geht er ein paar Übungen durch, die Geist und Körper beruhigen sollen. Was sie in all dem Trubel aber bitte nicht vergessen sollen: das Anwaltsteam der „Letzten Generation“ anzurufen. Dieses nehme den Fall dann auf.

Die „Letzte Generation“ will mit ihren Klebeaktionen Berlin lahmlegen. : Bild: Ilkay Karakurt

Nach etwas mehr als einer Stunde ist das Protesttraining in Heilbronn vorbei. Normalerweise dauern solche Übungen deutlich länger, zwischen drei bis sechs Stunden. Dieses Mal war schlichtweg nicht genug Zeit dafür. Dennoch zeigen sich die Teilnehmer bereit, das Gelernte umzusetzen. Anton wird in den kommenden Tagen nach Berlin reisen. Und auch in Heilbronn will die „Letzte Generation“ weitere Aktionen organisieren. Ein paar weitere Willige, die die radikalen Proteste unterstützen, hat sie ja schließlich gefunden.

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