Richard und die Sesseldetektive

Geben wahre Geschichten einfach den besseren Stoff her? Egal ob für Literatur, fürs Kino oder fürs Fernsehen? Die Autofiktion als Roman-Genre mag noch einmal ein eigenes Diskussionsthema sein, aber Filme und Serien tragen das Siegel „Based on a true story“ vermeintlich immer öfter wie einen Qualitätsausweis vor sich her.

Es muss einen Zusammenhang mit Werbewirksamkeit geben, der darüber hinausgeht, dass Menschen sich für die Realität als solche interessieren. Allein dass eine Erzählung realistisch und nachvollziehbar ist, scheint nicht auszureichen. „Basierend auf einer wahren Geschichte“ verspricht eine Stufe mehr: nicht nur die Erzählung eines Geschehens, sondern das Zeugnisablegen über eine Erfahrung.

Wie um diesen Aspekt noch zu unterstreichen, steht am Anfang der Netflix-Serie Rentierbaby sogar: „This is a true story.“ Der Schotte Richard Gadd, Autor und Hauptdarsteller der Serie, schildert darin seine Erfahrungen mit Missbrauch und Stalking (der Freitag 21/2024). Dass Gadd hier seine persönlichen Erlebnisse wiedergibt, scheint einer der Gründe für den unerwartet großen Erfolg von Rentierbaby zu sein. Die Serie wurde ohne eigene Werbekampagne, allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda und die Vorschlagsmacht des Netflix-Algorithmus zu einer der bisher meistgesehenen des Jahres. Mit dem großen Zuschauer-Erfolg aber kam gleichzeitig eine Dynamik in Gang, mit der die Macher nicht gerechnet hatten: Vor allem in Großbritannien, der Heimat von Gadd, machte sich eine Schar von sogenannten „Armchair Detectives“ („Sesseldetektiven“) daran, die wahre Identität jener Personen zu ermitteln, die für Gadds Missbrauchs- und Stalking-Erfahrungen verantwortlich waren. Im Fall der männlichen Figur richtete sich der Verdacht – unter anderem wegen der Ähnlichkeit des Schauspielers! – bald auf einen Mann, der sich daraufhin mit Online-Hetze und Drohungen konfrontiert sah. Gadd versuchte, ihn mit einem Instagram-Post in Schutz zu nehmen. Sein Appell an die Zuschauer, derlei Spekulationen zu unterlassen, blieb jedoch ungehört. Auch für die weibliche Stalkerin, die in der Serie Martha heißt und von einer großartigen Jessica Gunning verkörpert wird, fand sich schnell eine Hauptverdächtige. Und die ging daraufhin selbst an die Öffentlichkeit. Nicht nur, dass sie in einem Interview mit dem britischen Journalisten Piers Morgan die Serie bezichtigte, alles falsch darzustellen und sie ohne Grund als verurteilte Stalkerin anzuschwärzen, sie ging einen Schritt weiter und reichte Klage gegen Netflix ein.

Es ist nicht das erste Mal, dass Netflix wegen einer „wahren Geschichte“ verklagt wird. Bereits 2020 hatte die ehemalige New Yorker Staatsanwältin Linda Fairstein den Streamer wegen Verleumdung ihrer Person verklagt. Stein des Anstoßes war damals die Miniserie When They See Us, in der die Regisseurin Ava DuVernay den haarsträubenden Fall der fünf zu Unrecht verurteilten jungen Schwarzen nacherzählt, die bis zu zwölf Jahre im Gefängnis verbringen mussten, bis ihre Unschuld in Bezug auf die Vergewaltigung einer Joggerin im Central Park erwiesen war. Staatsanwältin Fairstein, die sich seinerzeit vehement für einen Schuldspruch eingesetzt hatte, kommt in der Serie tatsächlich schlecht weg. Wie ein Gericht das schlussendlich beurteilt hätte, wird nun nicht mehr geklärt werden, denn die beiden Parteien gaben im Juni bekannt, dass sie sich auf einen Vergleich geeinigt haben. Diesen wiederum reklamierten sowohl Fairstein als auch DuVernay und Netflix als Erfolg für ihre Seite.

In Großbritannien, das generell für seine strengeren Verleumdungsgesetze bekannt ist, wies jüngst ein Urteil in eine andere Richtung: Ein Universitätsprofessor, der sich durch die unvorteilhafte Darstellung seiner Figur in Stephen Frears’ Spielfilm The Lost King diffamiert sah, bekam in erster Instanz recht. Der Film, alles andere als ein Kassenschlager, erzählt mit Sally Hawkins in der Hauptrolle von den hartnäckigen Forschungen einer Laien-Archäologin, die zur Entdeckung der Gebeine von Richard III. führten.

Es sind nicht nur juristische Fragen, mit denen sich an der Umsetzung von wahren Geschichten Beteiligte künftig beschäftigen müssen: Gadd und Netflix wird branchenintern tatsächlich vorgeworfen, die zwei Figuren nicht unkenntlicher gemacht zu haben. Aber wie weit hätten sie dabei gehen müssen – und wie weit hätte dann noch das Konzept der „wahren Geschichte“ getragen? Sind es doch die Authentizität der Erfahrung und die Ehrlichkeit, mit der Gadd über seine eigenen Verstrickungen in einer Art Zwickmühle der Traumatisierung berichtet, die die Serie so unvergleichlich machen.

Was den Machern von Rentierbaby momentan die größte Sorge bereiten dürfte, ist aber weniger der juristische Fall als der eventuelle Image-Schaden, der wenige Wochen vor Verkündigung der Emmy-Nominierungen die Chancen der Serie beeinträchtigen könnte. Als jüngstes Beispiel wird Todd Haynes’ hochgelobter Film May December angeführt, der seine Oscar-Kampagne durch Medienauftritte eines der realen Vorbilder seiner Geschichte empfindlich gestört sah. Auch Haynes’ Film erzählt von einem Missbrauch. Das Pikante daran: May December reklamierte gar kein „Based on a true story“. Die Kritik des „realen Vorbilds“ am Film war dementsprechend komplizierter. Sie wandte sich weniger gegen eine als unvorteilhaft oder verzerrend empfundene Darstellung – hier fühlte sich jemand hinsichtlich seiner eigenen Geschichte enteignet. Und in der Tat: Wem gehört sie, die „wahre Geschichte“?

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