Rezession in Deutschland: Jetzt rächen sich die Fehler der Vergangenheit

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In Deutschland kann man sich fast nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn es mit der Wirtschaft auch mal länger abwärts geht. Bankenkrise, Eurokrise, Corona-Krise – das alles überstand die deutsche Volkswirtschaft in den vergangenen 15 Jahren einigermaßen unbeschadet. Nach kurzzeitigen Einbrüchen wuchs die Wirtschaft beständig weiter, die Arbeitslosenzahl sank, Staatsschulden wurden abgebaut, wenn auch die Ungleichheit zwischen Arm und Reich zunahm. Jetzt aber deutet alles darauf hin, dass es ernst wird.

Seit Wochen häufen sich die Meldungen von Unternehmen und Konjunkturforschenden, die nichts Gutes für diesen Winter und das kommende Jahr erwarten lassen. Zuvorderst hat nun Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Regierungssicht auf die kommende Zeit dargelegt. „Die schwere Energiekrise droht sich zu einer Wirtschaftskrise und im Verbund damit zu einer Sozialkrise auszuwachsen“, sagte Habeck am Mittwoch. In der zweiten Hälfte des laufenden Jahres dürfte ihm zufolge die deutsche Wirtschaft schrumpfen. Auch für das Jahr 2023 rechnet der Vizekanzler nun nicht mehr mit Wachstum, sondern mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um minus 0,4 Prozent. Rein definitorisch wäre dies eine Rezession. Sie tritt schon ein, wenn die Wirtschaft in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen nicht mehr wächst. Davon sei, so sagte Habeck, bereits zum Jahresende 2022 auszugehen.

Man muss auch keine Wissenschaftlerin sein, um zu bemerken, dass in vielen Unternehmen schwierige Zeiten anbrechen. Ein Blick auf die Nachrichten der vergangenen Tage genügt. „BASF kündigt Sparprogramm an“, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Konzern werde Stellen abbauen. „Sparkassen-Vorstände fürchten Wirtschaftskrise. Deutlicher Einbruch der Kreditnachfrage“, vermeldete das Handelsblatt. „Zahl der Firmeninsolvenzen im September um ein Drittel gestiegen“, hieß es auf ZEIT ONLINE. Ganz zu schweigen von den unzähligen Hilferufen aus dem Mittelstand in den vergangenen Wochen, die im Einklang beklagen, dass sie ihre um ein Vielfaches gestiegenen Energierechnungen nicht mehr begleichen könnten und vor der Zahlungsunfähigkeit stünden.

Trend könnte sich verstärken

Auch die einschlägigen Forschungsinstitute stimmen in den Chor ein. „Wir steuern auf eine Rezession zu, weil viele Menschen bei anderen Ausgaben sparen, um Energie- und Lebensmittelpreise noch bezahlen zu können“, sagt der wissenschaftliche Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Sebastian Dullien. Die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession hat sich dem Institut zufolge deutlich erhöht. Für das laufende vierte Quartal von Oktober bis Dezember sei das Risiko auf 80,8 Prozent gestiegen, hieß es. Anfang September betrug die Wahrscheinlichkeit noch 64,1 Prozent.

Es sei in dieser Lage wichtig, „dass die Kaufkraft der Bevölkerung gestützt wird“, führt Dullien weiter aus, damit der Konsum im Land sich nicht weiter abschwäche. Dazu könne auch die Gaspreisbremse beitragen, mit der die Regierung die Menschen und die Unternehmen entlasten möchte. Würde der Vorschlag der Gaspreiskommission eins zu eins umgesetzt, brächte das den privaten Haushalten bis zum Frühjahr 2024 eine Entlastung von rund 35 Milliarden Euro. Das federe den befürchteten Konsumrückgang ab und könnte das Wirtschaftswachstum um rund einen Prozentpunkt steigern, während die Inflation merklich niedriger ausfallen dürfte als ohne Gaspreisbremse, sagt Dullien.

Der Wirtschaftswissenschaftler empfiehlt, um die Kaufkraft und die Konjunktur zu stabilisieren, in dieser Lage auch „angemessene Lohnerhöhungen“ an die Beschäftigten zu zahlen. Doch wie sollen die Unternehmen mitten in der Krise die Gehälter anheben, wenn ihnen das Geschäft wegbricht? Die deutsche Wirtschaft steuert damit auf ein Dilemma zu: Denn wenn die Unternehmen die Löhne nicht erhöhen, verstärkt sich der Abschwung, weil die Menschen de facto weniger Geld in der Tasche für ihren Konsum haben. Die Preise sind in den vergangenen Monaten stark gestiegen, die Inflation liegt aktuell bei zehn Prozent – aber das monatliche Einkommen ist bei vielen gleich geblieben. Die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger sinkt also. Es wundert deshalb nicht, dass schon seit August die Kauflaune in Deutschland nach Angaben der Gesellschaft für Konsumforschung auf einem Allzeittief liegt.

Dieser Trend könnte sich verstärken, wenn die negative Konjunkturentwicklung auf den Arbeitsmarkt durchschlägt und mehr und mehr Unternehmen anfangen, Teile ihrer Belegschaft zu entlassen, oder Betriebe zunehmend in die Insolvenz geraten sollten. „Trotz des verbreiteten Fachkräftemangels“, schreibt die Deutsche Bank in einem aktuellen Bericht, „könnte der Beschäftigungsaufbau einen temporären Dämpfer bekommen.“ Erste Indikatoren aus dem Arbeitsmarkt deuteten in diese Richtung. Die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen dürfte demnach in der erwarteten Rezession zurückgehen.

Der Musterschüler steht vor riesigen Herausforderungen

Wie stark sich diese Krise auf dem Arbeitsmarkt festsetzt, hängt letztlich davon ab, ob sie lange anhält. Schließlich können viele Firmen eine Abschwächung der allgemeinen Konjunktur eine Zeit lang überbrücken, indem sie Teile ihrer Belegschaft in Kurzarbeit schicken. Das Instrument hat sich in diversen Krisen bewährt, zuletzt während der Lockdowns in der Corona-Pandemie. Aber das geht bestenfalls einige Monate lang. Schließlich wird das Kurzarbeitergeld schon lange nicht mehr aus den Reserven der Bundesagentur für Arbeit gezahlt, sondern aus dem Bundeshaushalt bestritten, was nicht so gedacht ist. Ersten Prognosen zufolge könnte diesen Winter die Zahl der Menschen in Kurzarbeit auf mehr als zwei Millionen anwachsen. Das lässt sich nicht ewig staatlich finanzieren.

Und was, wenn die Krise länger anhält und viel schwerer wird, als Habecks Ministerium bisher voraussagt? Viele Ökonominnen und Ökonomen äußern sich aktuell deutlich pessimistischer. Die Deutsche Bank etwa geht davon aus, dass die drei Entlastungspakete der Regierung wahrscheinlich einen Einbruch der Wirtschaftsleistung „nicht verhindern“ werden. Dafür seien vor allem zwei Faktoren entscheidend: die schwächere globale Konjunkturentwicklung und der starke Rückgang der Nachfrage in Deutschland selbst. Dies könne zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung im Jahr 2023 um minus drei bis vier Prozent führen. Auch die KfW-Bank hält ein negatives Szenario für möglich, in dem die Wirtschaft um 2,5 Prozent schrumpft. Damit stünde Deutschland viel schlechter da als andere Länder in Europa, obwohl es doch so lange als ökonomischer Musterschüler galt.

Eine Erklärung dafür lautet: In den vergangenen zehn Jahren, in denen es Deutschland wirtschaftlich blendend ging, hat das Land es verpasst, sich zu modernisieren. Die hohe Abhängigkeit von russischem Gas ist dabei nur ein Problem unter vielen. Viel zu lange etwa hielt die Autoindustrie am Verbrennungsmotor fest und läuft jetzt der Umstellung auf elektrische Antriebe hinterher, statt wie zuvor Innovationsführer zu sein.

Aber auch die starke Abhängigkeit der Exportindustrie von Asien bereitet zunehmend Schwierigkeiten, da vor allem China inzwischen selbst gute Maschinen bauen kann und nicht mehr so stark auf deutsche Produkte angewiesen ist. Im Land selbst hat man die Infrastruktur trotz exzellenter Haushaltslage vernachlässigt, die Digitalisierung hat im öffentlichen Bereich quasi nicht stattgefunden. All diese Probleme überlappen sich jetzt in der aktuellen Krise und verstärken sich im schlimmsten Fall gegenseitig. Es werden für Deutschland riesige Herausforderungen, diese Aufgaben zu bewältigen.

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