Die Biennale Musica 2025 beginnt mit einem derart krachenden und fulminanten 60-Minuten-Tusch, dass die 69. Ausgabe des Festivals danach auch sofort wieder hätte beendet werden können. Chuquimamani-Condori, US-Amerikaner:in mit bolivianischen Wurzeln und Preisträger:in des Silbernen Löwen des vierwöchigen Musikmarathons, schmettert gemeinsam mit ihrem Bruder Joshua Chuquimia Crampton von einer improvisierten Open-Air-Bühne aus eine brutal laute wall of sound an die Gemäuer des Arsenale.
Früher wurden hier die Kriegsschiffe der Republik Venedig gebaut und gewartet, heute ist das großräumige Gelände Standort der Biennale. Die Musik von Chuquimamani-Condori – irgendwo zwischen südamerikanischem Country, schweren Beats, Bubblegum-Pop und zerrenden melodischen Drones – lassen die Getränke in den Plastikbechern erzittern und das Bilderbuch-Image der Lagunenstadt für einen kurzen Moment zerplatzen.
Das Duo trägt schillernde Cowboy-Kostüme und ausladende Stetsons und zerlegt vor pittoresker Sonnenuntergangskulisse mit orchestralem Heavy Metal die Musik als Ganzes in Einzelteile, die sich wie Mückenstiche auf das Publikum ergießen. Das tut genau richtig weh.
Venedig zelebriert keine zugeknöpfte Avantgarde
Kurz vor dem eigentlichen Konzert schippern die beiden Musiker:innen noch mit Booten durch die Kanäle. Die Schiffchen sind mit Boomboxen ausgestattet, plärren Klangfetzen über das Wasser. Eine Referenz an die venezianische Jugendkultur. Denn in diesen Booten – den „Barchini“ –vertreiben sich junge Menschen in der Lagunenstadt die Zeit, hören Musik und fahren einfach rum.
Die Biennale Musica fühlt sich 2025 schon von Beginn anders an – und klingt genau so. Hier wird nicht die zugeknöpfte Avantgarde zelebriert, das klassisch Konzertante, sondern das Miteinander von Generationen, Stilen und künstlerischen Haltungen. Das ist neu, für langjährige Festivalbesucher:innen vielleicht gewöhnungsbedürftig, aber nicht zwingend ein Bruch mit der Tradition, die in der von Tourist:innen auch Mitte Oktober immer noch überlaufenen Stadt sowieso nur dann strahlt, wenn man ganz genau hinschaut, die Sightseeing-Grüppchen, Selfiesticks und kitschige Memorabilia der Souvenirläden ausblendet.
Caterina Barbieri hat einen eigenen Blick auf die Tradition. Die 25-jährige Komponistin und Musikerin ist für zwei Jahre die künstlerische Leiterin des Festivals und verantwortet das Programm zwischen Konzerten, Klanginstallationen, Podiumsgesprächen und DJ-Sets. „Es stimmt, dass die Biennale Musica in der zeitgenössischen klassischen Musik verwurzelt ist. Das passt zur Tradition der Stadt. Für mich ist Tradition aber auch immer Ansporn, Dinge neu zu denken. Ich möchte Resonanzräume schaffen, die Vergangenheit mit der Gegenwart ins Gespräch bringen. Musikalische Entwürfe präsentieren, die sich auf den ersten Blick vielleicht nur schwer oder gar nicht in Zeit und Raum verorten lassen, aber Impulse geben für das Hier und Jetzt. Es liegt mir am Herzen, Venedig mit dem Rest der Welt zu verknüpfen, globale Ideen abbilden und schauen, wie sie hier in Venedig aufgenommen werden und klingen.“
Alt und neu sind für Caterina Barbieri keine Gegensätze
Mit ihrer eigenen Musik arbeitet Barbieri seit jeher an diesen Schnittstellen und an der Überwindung etwaiger Grenzen zwischen Genres. Sie ist im Berghain genauso zu Hause wie in den etablierten Konzerthäusern auf der ganzen Welt. Alt und neu, elektronisch und akustisch sind für Barbieri keine Gegensätze, sondern eine Chance für Fortschritt.
Das merkt man der diesjährigen Biennale Musica bei praktisch jedem Programmpunkt an. „La Stella Dentro“ – Der Stern im Inneren – hat Barbieri das Festival betitelt, bei dem viel Gegensätzliches auf unerwartete Weise zusammenkommt. Der Dubtechno-Pionier Moritz von Oswald präsentiert sein aktuelles Album Voices in Zusammenarbeit mit Cappella Marciana, dem Chor des Markusdoms. Die mittlerweile 79-jährige Komponistin und Elektronikerin Suzanne Ciani spielt Synthesizer zusammen mit dem britischen „R&B Concrète“-Künstler Actress – quadrophonisch. Zwischendrin legt DJ-Legende Carl Craig Platten auf.
Das Programm ist nicht nur vielfältig, sondern wird an den einzelnen Abenden auch immer wieder gebrochen. Thematische Abende, solche, bei denen man sich auf eine durchgehende Musikfarbe verlassen kann, sucht man in Venedig dieses Jahr vergeblich. Das wird schon am Eröffnungswochenende deutlich. Im Teatro Alle Tese beginnt der Abend mit Traveling Light, dem neuen Werk des portugiesischen Gitarristen Rafael Toral.
Modenschau als Jazz-Performance
Gitarrist sollte man jedoch nicht zu wörtlich nehmen, der Musiker spielt das Instrument zwar, verfremdet den Klang jedoch mit zahlreichen und selbstgebauten Effekten. Zwischen krachigen Stakkati und elegischen Bögen voller Wohlklang wird er in Venedig von vier Solist:innen (Klarinette, Tenorsaxofon, Flügelhorn, Querflöte) abwechselnd oder als Ensemble begleitet.
Darauf folgt der Norweger Bendik Giske, der sein Saxofon nicht nur spielt, sondern als Klangkörper begreift, mit dem sich auch Percussion-Sounds umsetzen lassen. Das ist musikalisch streng und spröde, erfordert höchste Konzentration, eine dicke Haut und Ohrstöpsel, ist visuell aber eine Augenweide, ähnelt das Konzert performativ doch eher dem stilisierten Auf und Ab einer Modenschau als einer Jazz-Performance. Und schließlich reißt die Kongolesin Nkisi mit ihrer unterkühlten und tribalen Elektronik alles ab.
Auf eine Bestuhlung wird bei den Shows im Teatro Alle Tese kategorisch verzichtet, das Publikum soll sich auf den Boden setzen, stehen oder noch besser durch den Saal wandern. Die Mehrheit ist darauf nicht vorbereitet und harrt den Basswellen im Schneidersitz auf der roten Auslegeware. Die Besucher:innen sind an diesem Abend ein ordentlich bunter Haufen. Neben den Jüngeren (der Barbieri-Crowd) gesellen sich viele Ältere.
Der Stern im Inneren
Einige haben in weiser Voraussicht Klappstühle mitgebracht, sitzen nahe am Ausgang. Vielen sieht man an, dass sie sich fragen, was aus ihrer Biennale Musica geworden ist. Andere wiederum wirken durchaus interessiert, wirken abgehärtet, so als wäre es seit jeher ihre Lebensaufgabe, neue Musik zu verstehen.
Dass sich Alt und Jung hier gemeinsam dem Klang ergeben, wirkt wie das Natürlichste der Welt. Das ist ganz im Sinne der Kuratorin Caterina Barbieri: „Resonanzen bringen uns zusammen – auf den unterschiedlichsten Ebenen. Uns ganz individuell mit der Musik, aber auch als Gruppe im Publikum und darüber hinaus.
Mit anderen Welten und Ideen, dem vielleicht Unbekannten. Im Idealfall sind Resonanzen Türöffner und schaffen ein neues Gefühl der Gemeinschaft.“ genau darauf beziehe sich auch das Motto des Festivals: Der Stern im Inneren „ist keine Esoterik. Musik hat politisches und soziokulturelles Potenzial. Resonanzen öffnen uns. Das hat hoffentlich positive Wirkung auf unser aller Zusammenleben. Je genauer wir zuhören, desto mehr öffnen wir uns und entwickeln Empathie.“
Refugium für Kulturbeflissene
Die politische Dimension des Festivals erschließt sich Schritt für Schritt, Ton für Ton über das Eröffnungswochenende. Jedem aufgeführten Werk wohnt ein nadelstichiges Potenzial inne, das sich ganz unterschiedlich deuten lässt. Ist die Auszeichnung eines queeren Künstler mit dem Silbernen Löwen schon ein Zeichen des Widerstands gegen Melonis Regierung?
Was bedeutet es für das kulturelle Establishment Venedig und Italiens, wenn der Afroamerikaner Deforrest Brown Jr. für sein Konzert bei der Biennale vor seinem Laptop fläzt und kübelweise Krach und Beats in die Lautsprecher schickt? Und was ist von dem französischen Komponisten Maxime Denuc zu halten, der im katholischen Italien eine Pfeifenorgel nicht nur selber gebaut hat, sondern den sakral konnotierten Klang dann auch noch von seinem Laptop steuern und klingen lässt wie ein Soundsystem aus Jamaika?
Die Biennale Musica 2025 präsentiert sich nicht als verlässliches Refugium für Kulturbeflissene, als Anker der falsch verstandenen Selbstbestätigung der Traditionen einer Stadt, die schon längst zu einem touristischen Disneyland geworden ist. Das Festival ist vielmehr eine Plattform, die zeigt, was sich aus der globalisierten Gegenwart lernen lässt.
Klanginstallationen ohne festen Beginn
Das umzusetzen sei immer wieder schwierig gewesen, sagt Caterina Barbieri. Besonders die Formate, die abseits der gelernten Konzertsituation stattfinden, hätten für Irritationen gesorgt. Musikalische Bootsfahrten zum Beispiel, der community space „LSD Center“ oder die Klanginstallationen ohne festen Beginn und Ende. Tradition lässt sich eben so oder so interpretieren.
Ob das ein Neustart für das Festival ist, bleibt abzuwarten. Ob es den überhaupt braucht, liegt ohnehin im Auge der Betrachtenden, und ein umherschweifender Blick ins Publikum im Teatro Alle Tese am Eröffnungswochenende zeigt, dass die Meinungen stark divergieren dürften. Wichtig ist die Biennale Musica aber mehr denn je. Sie bietet Künstler:innen den finanziellen und organisatorischen Rahmen, Projekte zu präsentieren, die so weltweit immer seltener umsetzbar sind.
Das ist zum Beispiel spürbar bei William Basinskis The Garden Of Brokenness, einer Komposition für drei Flügel, Percussion und verfremdete Geräusche der Vaporettos, der Wasserbusse Venedigs. Ein Requiem, ein stilles und doch mächtiges Werk, das dem zeitgenössischen Minimalismus ganz in der Tradition von Gavin Bryars und Brian Eno eine wichtige Facette hinzufügt.
Und als das repetitive Leitmotiv des Klaviers immer leiser wird und schließlich ganz im Brummen des Dieselmotoren der Vaporettos verschwindet, wird klar, dass Venedig schon lange nicht mehr das ist, was Tourist:innen hier suchen. Und die Biennale Musica zeigt das mit der Kraft der Musik.