Am 12. Dezember 2003 erläuterte die damalige Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) im Bundestag, wie die Rente in der alternden Gesellschaft zu stabilisieren sei. „Um die gesetzliche Rentenversicherung als verlässliche Säule der Alterssicherung für die Menschen bewahren zu können, muss sie um zwei wichtige Faktoren ergänzt werden“, erklärte sie: „Erstens um den Nachhaltigkeitsfaktor und zweitens um eine verbesserte kapitalgestützte Säule.“ Auf Grundlage dieser Analyse beschloss die rot-grüne Koalition bald darauf ihr „Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz“.
Doch das ist Geschichte. Nun wenden sich SPD, Grüne in einer Koalition mit der FDP wieder davon ab. Das „Rentenpaket II“, das sie an diesem Mittwoch im Bundeskabinett beschließen wollen, soll ebenjenen Nachhaltigkeitsfaktor in der Berechnungsformel für die jährlichen Rentenerhöhungen außer Kraft setzen. Damals, vor gut 20 Jahren, stand das Ziel im Vordergrund, Beitrags- und Steuerzahler vor einer Überlastung zu schützen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge die Rente erreichen. Heute steht die Sorge um das finanzielle Wohlergehen der gut 20 Millionen Rentner im Vordergrund.
Konkret sieht das geplante Gesetz eine neue Berechnungsmethode für die jährliche Rentenerhöhung vor. Sie soll im Kern sicherstellen, dass die Renten nicht mehr langsamer steigen dürfen als die Löhne. Der Nachhaltigkeitsfaktor aber hatte genau diesen Zweck: Gibt es mehr Rentner und weniger Beitragszahler, dann lässt er die Renten etwas langsamer steigen als die Löhne und dämpft so die demographisch bedingte Mehrbelastung der Zahlergenerationen. Nun will die Ampelregierung diesen Mechanismus bis 2039 ausschalten, was in ihrem Sprachgebrauch „Stabilisierung des Rentenniveaus“ heißt.
Prozentualer Anstieg bedeutet Milliarden-Ausgaben
Die konkreten Folgen sehen so aus: Nach amtlicher Vorausschätzung wären bis zum Jahr 2035 derzeit Rentenerhöhungen um insgesamt knapp 32 Prozent zu erwarten. Mit dem geplanten Gesetz werden daraus gut 38 Prozent. Zugleich steigen damit die jährlichen Rentenausgaben, für die Beitrags- und Steuerzahler aufkommen müssen. Der von Sozialminister Hubertus Heil (SPD) im März vorgelegte Gesetzentwurf weist aus, dass diese Mehrausgaben bis 2035 auf jährlich gut 28 Milliarden Euro wachsen. Bis 2040 werden es dann 40 Milliarden Euro sein. Und für den Rentenbeitragssatz wird nun bis 2035 ein Anstieg um 3,5 statt um 2,5 Prozentpunkte des Bruttolohns erwartet.
Die Generationen werden davon allerdings unterschiedlich betroffen sein: Wer schon in Rente ist oder, wie die geburtenstarken Jahrgänge, kurz davor steht, profitiert von den stärkeren Rentenerhöhungen, ohne dafür höhere Beiträge zahlen zu müssen. Wer es noch weit bis zur Rente habe, solle zwar später auch davon profitieren, wie Heil verspricht. Erst einmal müssen diese Generationen aber das zusätzliche Beitrags- und Steuergeld für die aktuellen Rentner aufbringen.
„Wir blicken mit besonderer Vorfreude darauf“, sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zu Wochenbeginn über den geplanten Kabinettsbeschluss. Und er rügte abweichende Positionen als ein „Agitieren“ gegen die umlagefinanzierte Rente. Das richtete sich aber weniger gegen die einstige Analyse von Ulla Schmidt als gegen die FDP. Deren Minister wollen das Rentengesetz zwar im Kabinett unterstützen, ihre Bundestagsfraktion vertritt aber bisher die Ansicht, dass es in der vorliegenden Form nicht zustimmungsfähig sei.
FDP musste für Generationenkapital Deal eingehen
Mit einer ähnlichen Doppeltaktik hatte die FDP schon im März für Erstaunen gesorgt. Denn ihr Finanzminister Christian Lindner stellte das Gesetzesvorhaben gemeinsam mit Sozialminister Heil der Öffentlichkeit vor, nachdem er noch kurz zuvor ein „Sozialausgabenmoratorium“ gefordert hatte. Lindner ist an dem Rentenpaket beteiligt, weil es neben der neuen Berechnungsformel auch die Einführung eines neuen Staatsfonds vorsieht.
Dieses sogenannte Generationenkapital soll bis 2035 durch Schuldenaufnahme des Bundes einen Kapitalstock von 200 Milliarden Euro aufbauen und in Aktien anlegen. Danach sollen aus dessen Erträgen zusätzliche Zuschüsse an die Rentenversicherung gezahlt werden, um den weiteren Anstieg des Beitragssatzes zu bremsen. Die erhofften Erträge von jährlich 10 Milliarden Euro würden 2040 aber nur ein Viertel der Mehrausgaben infolge der neuen Rentenberechnungsformel decken.
Lindner präzisierte den Ruf nach einem „Sozialausgabenmoratorium“ bald dahingehend, dass dieses nur für drei Jahre gelten solle, also nicht mehr in der Zeit, in der die Kostenwirkung des Rentengesetzes steigt. Johannes Vogel, Parlamentarischer Geschäftsführer und Vizevorsitzender der FDP, brachte jedoch noch im März grundlegende Einwände dagegen vor. In der vorliegenden Form sei das Paket „nicht generationengerecht“ und verstoße gegen den Koalitionsvertrag, sagte er damals der F.A.Z. Im April bekräftigte ein Parteitagsbeschluss diese Position.
FDP hat es auf die Rente mit 63 abgesehen
Als mögliche Bedingungen für ihre Zustimmung im Bundestag hat die FDP dabei mehrere Punkte formuliert: Sie tritt für eine Abschaffung der sogenannten Rente ab 63 ein und will die geplante neue Berechnungsmethode so modifizieren, dass diese den Rentenanstieg weniger stark beschleunigt. Zudem will sie das Generationenkapital noch beherzter aufbauen als geplant. SPD und Grüne lassen aber bisher nicht erkennen, dass sie solche Zugeständnisse machen wollen. Die Bundestagsberatungen nach dem Kabinettsbeschluss lassen daher neue Reibereien in der Ampelkoalition erwarten.
Für Lindner als Finanzminister steht indes derzeit die Aufgabe im Vordergrund, den Bundeshaushalt 2025 aufzustellen, ohne verfassungsrechtliche Vorgaben zu verletzen. Seine Zustimmung zum Rentenpaket im Kabinett hatte er daher an die Bereitschaft der anderen Regierungspartner geknüpft, in diesem Verfahren Etatdisziplin zu üben. Nachdem sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Mitte Mai öffentlich dazu bekannt hat, verlautete aus dem Finanzministerium, die Bedenken gegen das Rentenpaket sein „zunächst ausgeräumt“.
Sollte dieses später die Grenzen der Finanzierbarkeit sprengen, müsste es nach Lindners Lesart eben dann wieder geändert werden. Das Kanzleramt sieht dagegen offenbar nicht einmal Gründe, im Parlament länger über das weitreichende Rentengesetz zu debattieren. Laut einem Schreiben, aus dem am Dienstag die Nachrichtenagentur Reuters zitierte, erwartet es schon für Anfang Juli die endgültige Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.