Eine Neue Volksfront (NFP) hatte sich zur allgemeinen Überraschung aus der Asche erhoben. Es gab ein gemeinsames Ziel, es galt einen scheinbar „unaufhaltsamen Sieg“ des Rassemblement National (RN) zu verhindern. Ohne Konzessionen wäre das nicht möglich gewesen. So verzichtete die Partei La France Insoumise (LFI) als stärkste Kraft der Allianz in gut hundert Wahlbezirken auf eigene Kandidaturen. Das brachte Sozialisten, Kommunisten und Grünen schon im ersten Wahlgang höhere als die sonst üblichen Wahlergebnisse. In der zweiten Runde siegte die Volksfront, freilich ohne die absolute Parlamentsmehrheit zu gewinnen. Seither hat ein Tauziehen darum begonnen, wie diesem Triumph auch politisch entsprochen werden kann. Hauptrivalen sind die LFI und der Parti Socialiste (PS), die eigene politische Kulturen verkörpern und eine unterschiedliche Wählerschaft vertreten. Die LFI wird ihre starke Position nur halten, wenn es ihr gelingt, das in neuen proletarischen Schichten errungene Vertrauen zu bewahren.
Es geht um Gruppen von Menschen, die dank ihrer Herkunft bekennende Muslime sind, in besonders prekären Milieus an der Peripherie der Städte leben und zu den „armen Arbeitenden“ zählen. Es gehört zu den erfolgreichsten LFI-Projekten, diese Schichten mit der als „gute Gallier“ geltenden traditionellen Arbeiterschaft des Landes zusammengebracht zu haben. Um diesen Erfolg zu diskreditieren, wird gegen die Partei unter der Chiffre „Islamo-Linke“ polemisiert. So werden die schrecklichen Ereignisse vom 7. Oktober 2023 instrumentalisiert, um gläubige Muslime als diabolischen Instinkten ausgelieferte Gemeinschaft hinzustellen. La France Insoumise trifft der Vorwurf, dies zu unterstützen und sich dazu eines perfiden Antisemitismus zu bedienen. Dies habe zu vielen Stimmen aus der Banlieue geführt.
Denkbare Dekrete
Was der Bannstrahl solcher Anschuldigungen auszulösen vermag, ist bekannt: Die aufklärungsfeindliche Gleichsetzung von Kritik an einer israelischen Regierung und rassistischem Antisemitismus bleibt nicht ohne Wirkung. Die zu 90 Prozent im Besitz von einigen Milliardären befindlichen französischen Medien setzen ihr Sperrfeuer auf die LFI und ihre Leitfigur Jean-Luc Mélenchon nach der Parlamentswahl ungezügelt fort. Man vergisst dabei, festzuhalten, dass der Verfassungsrat die Partei nicht als „linksextremistisch“ eingestuft hat, sondern als „normal links“. Vergleicht man ihre Programmatik mit der Agenda, die den Sozialisten François Mitterrand 1981 zum Wahlsieg führte, erkennt man, wie harmlos linkssozialistisch sie ist.
Um ein weiteres Abgleiten von Wählern hin zu Marine Le Pen aufzuhalten, geißelt die LFI einen extremen Neoliberalismus, worin sie die Wurzel fortschreitender millionenfacher Verarmung sieht. Daraus resultiert für Mélenchon das Gebot, am Wahlprogramm der Neuen Volksfront festzuhalten. Diese Konsequenz birgt die Gefahr einer alles in Frage stellenden Spaltung der Allianz. Emmanuel Macron weigert sich wie gehabt, die NFP mit der Bildung einer Minderheitsregierung zu beauftragen, der es umgehend möglich wäre, wichtige Dekrete zu erlassen wie die Erhöhung des Mindestlohnes auf 1.600 Euro, die Außerkraftsetzung der Rentenreform, die Einführung eines Preislimits für Grundnahrungsmittel oder die Übernahme aller Schulkosten für Bedürftige.
Die kurz in Erklärungsnot geratenen medialen Meinungsführer, deren Annahme eines Erdrutschsieges des RN von großer Akzeptanz flankiert war, haben sich schnell wieder gefasst. Der Sieg der NFP wird flugs relativiert. Die Devise lautet: „Vorn zu liegen, heißt noch nicht, gewonnen zu haben!“ Und: „Ohne Hinwendung zum Zentrum um Macron wird es nicht gehen!“ Die Sozialisten stecken in der Zwickmühle – soll man gegebene Wahlversprechen einhalten oder als „Geschwätz von gestern“ vergessen und mit der Mitte paktieren? Mittelfristig liefe Letzteres auf die definitive Bedeutungslosigkeit des PS hinaus. Und die jüngst errungenen Wählerstimmen einer mehrheitlich eher mild sozialistischen Klientel erwiesen sich als mächtige Sirenengesänge. Entscheidend wird die anstehende Entscheidung über den künftigen Premierminister. Mit der Kandidatur des Kommunisten André Chassaigne für die Parlamentspräsidentschaft hat der Front Populaire erst einmal gezeigt, wie man im Konsens vorgehen kann. Allerdings hat dieser Bewerber gegen die Macron-Vertraute Yaël Braun-Pivet verloren.