Regierung welcher Niederlande: Wackelkabinett in Den Haag

Soeben hat die junge niederländische Regierung vor dem Zerbrechen standen. Das Vier-Parteien-Kabinett beriet über die Ausschreitungen rund um das Heimspiel Ajax Amsterdams gegen Maccabi Tel Aviv. Die Sitzung verlief offenkundig hitzig, Tage später trat Staatssekretärin Nora Achahbar vom sozialkonservativen Koalitionspartner NSC ab.

Welche Worte waren in der fraglichen Sitzung über Muslime gefallen, über marokkanischstämmige Niederländer? Waren es rassistische Ausdrücke, wie das im Anschluss gestreut wurde? Achahbar, von marokkanischer Abstammung, sprach nur von „polarisierenden Umgangsformen der vergangenen Wochen“. Aber die Debatte war nicht mehr zu stoppen, zwei Parlamentarierinnen des NSC verabschiedeten sich wenig später ebenfalls. Mit Mühe nur hielt Ministerpräsident Dick Schoof seine Koalition zusammen – viereinhalb Monate nach ihrer Vereidigung.

Seit Juli läuft in Den Haag ein Experiment: eine Koalition, in der drei Parteien noch keine landesweite Regierungserfahrung gesammelt hatten. Eine Koalition, die nach dem traditionellen Rechts-links-Muster die rechteste der jüngeren niederländischen Geschichte ist. Eine Koalition unter einem parteilosen Ministerpräsidenten – der ursprünglich auch noch einem anderen Lager entstammt, dem sozialdemokratischen nämlich.

Wilders ist Stein des Anstoßes

Dies alles hat jene Partei herbeigeführt, die seit der vorgezogenen Wahl vor fast genau einem Jahr im Zentrum der Diskussion steht: die PVV mit ihrem Gründer Geert Wilders, der formell ihr einziges Mitglied geblieben ist. Der islam- und einwanderungskritische Politiker ist in seiner Rhetorik über die Jahre verhärtet, gibt sich gleichzeitig einen sozialen Anstrich. Mit knapp einem Viertel der Stimmen wurde die PVV stärkste Kraft in der Zweiten Kammer. Der „cordon sanitaire“ – das Pendant der deutschen Brandmauer für die AfD – war kaum mehr zu halten. So formten schließlich unter Schmerzen vier Parteien ein Bündnis: die PVV, die wirtschaftsliberale VVD, der kurz vor der Wahl erst gegründete NSC (Neuer Gesellschaftsvertrag) und die ebenfalls noch junge, 2019 gegründete Bauernpartei BBB.

Wilders wollte Regierungschef werden, musste aber auf Druck der Koalitionspartner verzichten, vor allem des NSC. Um sein Gesicht zu wahren, hielten sich die Partner ebenfalls zurück – daher nun der parteilose Schoof. Die Fäden ziehen jetzt letztlich aus dem Parlament heraus die Fraktionschefs, unter ihnen Wilders. Ihr Vorteil: Erfolge können sie sich anrechnen, Misserfolge von sich weisen, denn sie sitzen ja nicht im Kabinett.

Die Schuldenquote wird steigen

Das Schlüsselressort Finanzen besetzt die VVD, die 14 Jahre lang unter ihrem Premier Mark Rutte die Koalitionen dominiert hatte. Finanzminister Eelco Heinen gibt sich als Falke, will ähnlich wie bis vor Kurzem Christian Lindner in Berlin die Koalitionspartner disziplinieren, jedenfalls PVV und BBB. Die Schuldenquote liegt mit 44 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) weit unter dem EU-Schnitt, wird aber nach Prognose des Forschungsinstituts CPB mittelfristig die EU-Latte von 60 Prozent reißen. Der Haushalt ist knapp kalkuliert, das Kabinett rechnet über die Legislaturperiode hinweg mit jährlichen Defiziten knapp unter dem Maastricht-Deckel von drei Prozent des BIP. Die Ausgaben für Verteidigung steigen deutlich, andere Ressorts sollen leiden.

Die Mehrwertsteuer auf Bücher, Zeitungen, Theaterbesuche und Sport sollte vom ermäßigten Neun-Prozent-Satz auf die regulären 21 Prozent steigen, was aber am absehbaren Widerstand in der Ersten Kammer scheiterte. Im Bildungssektor sind scharfe Kürzungen vorgesehen – dagegen macht nun ein ungewöhnliches Oppositionsbündnis von Linksliberalen bis zur dezidiert konservativen Ein-Mann-Fraktion JA21 Front.

Mehr Konstanz wäre nötig

Konkrete Schritte hat die Koalition bisher kaum verabschiedet, stattdessen ist sie von einer internen Krise zur nächsten gestolpert. Europapolitisch ist der klare Kurs noch nicht erkennbar. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei das Kabinett dafür, heißt es in Den Haag. Rutte kannte sich international bestens aus, auch mit Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner. Zwar musste er zusehen, wie sein alter Verbündeter in Sachen Fiskaldisziplin ihn spätestens im Streit um EU-Corona-Mittel im Stich ließ.

Das soll auch bei ihm Spuren hinterlassen haben, doch lächelte er den Dissens in gewohnter Manier weg. Jetzt müssen neue Akteure Vertrauen aufbauen. Deutschland wartet über Monate auf eine neue Regierung, und in den Niederlanden kann die neue Regierung jederzeit zerbrechen. In einer Zeit internationaler Umwälzungen wäre mehr Konstanz zu wünschen zwischen diesen wichtigen Partnern.

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