Es ist wohl kein Zufall, dass die Linke den Ball, den ihr die wissenschaftliche Forschung direkt vor das Tor des Senats gespielt hat, aufnahm und zu einem Antrag verdichtete. Des Inhalts, dass die Bürgerschaft einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) beschließen möge, der Untersuchungen anzustellen hätte „zum NSU-Terror in Hamburg, zur Aufarbeitung der militanten neonazistischen Strukturen in Hamburg und ihrer Verbindungen zum NSU-Netzwerk, ihrer möglichen Rolle im Zusammenhang mit dem Mord an Süleyman Taşköprü, zur Untersuchung eines möglichen Fehlverhaltens Hamburger Sicherheits- und Justizbehörden einschließlich der Senatskanzlei und anderer Verantwortlicher“(Bürgerschaftsdrucksache 22/11437). Auch die Grünen-Hamburg hatten in der Vergangenheit durch Landesmitgliederversammlungsbeschluss für eine parlamentarische Aufarbeitung plädiert.
Als einziges Tatortland hat Hamburg bisher keinen Untersuchungsausschuss zum NSU eingesetzt. Sehr zum Leidwesen derer, die sich professionell der Forschung zum Treiben des NSU-Netzwerk verschrieben haben und natürlich der Angehörigen der Opfer. Während 13 NSU-Untersuchungsausschüsse bereits Abschlussberichte vorgelegt habe und in Bayern nunmehr sogar ein zweiter Untersuchungsausschuss eingerichtet wurde, der noch arbeitet , gleich dem zweiten PUA in Mecklenburg-Vorpommern, soll es in Hamburg gar nicht erst einen solchen Ausschuss geben.
Das, obwohl gerade erst im letzten Jahr eine rechtswissenschaftliche Dissertation veröffentlicht wurde, mit der sich der promovierte Politologe Maximilian Pichl auch noch im Fach Jura promovieren ließ und von der bereits jetzt angenommen wird, „dass sich „Untersuchung im Rechtsstaat“ als Standardwerk zu Untersuchungsausschüssen im Allgemeinen ebenso wie zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes im Besonderen etablieren wird“ (Hammermann, Christian, Staatswohl, Sicherheit, Erinnerungslücken: Rezension zu „Untersuchung im Rechtsstaat. In: Soziopolis, 07.03.2023).Pichl kommt in seiner Arbeit zu dem Schluss, dass sie zeigen wird: „dass parlamentarische Untersuchungsverfahren Handlungsräume für die Akteure des Verfahrens eröffnen, in denen zugleich ordnungspolitische Strategien der Sicherheitsdienste wie auch rechtsstaatliche Praktiken der Aufklärung verfolgt werden können und die Verfahren auf diese Weise eigensinnige politische und juridische Dynamiken entfalten“(Maximilian Pichl, Untersuchung im Rechtsstaat Eine deskriptiv-kritische Beobachtung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur NSU-Mordserie, Baden-Baden 2022, S. 28).
Das hat die parlamentarische Mehrheit im Hamburgischen Landesparlament nicht daran gehindert, dass Hamburg sein Alleinstellungsmerkmal zum NSU-Komplex, der ja im Zweifel auch weit mehr umfasste, als nur das Treiben der gleichnamigen Neonazi-Truppe, beibehielt, indem es die Einrichtung eines PUAs ablehnte. Stattdessen hat man sich dazu durchgerungen, wie bereits nach dem G 20 – Gipfel in Hamburg, ein Gremium einzurichten, dass eben nicht über die parlamentarischen Kontrollrechte eines Untersuchungsausschuss verfügt. Dies war notwendig geworden, weil der grüne Regierungspartner in Hamburg auf innerparteiliche Widerstände beim Vorhaben der Ablehnung nach Einsetzung eines PUAs gestoßen war. Hatte man 2017 immerhin noch einen „Sonderausschuss“ eingerichtet, so soll es diesmal nur noch ein „Beirat wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes“ sein, der die zu beauftragende Aufarbeitung begleitet, deren Vergabe durch die Präsidentin der Bürgerschaft wird noch im Benehmen mit dem Ältestenrat konkretisiert. Selbst für grüne Verhältnisse eine kaum kaschierte Beerdigung parlamentarischer Untersuchungen, die jedenfalls garantiert keine „eigensinnige politische und juridische Dynamiken entfalten“(Pichl) wird.
Es sollte vielleicht noch einmal daran erinnert werden, dass „Die Kette an Vertuschungen, Blockaden, Schwärzungen und bewussten Vernichtungsaktionen von zentralem Archivmaterial (..) den NSU-Fall zu einem Skandal des Verfassungsschutzsystems in der Bundesrepublik“ gemacht hat (Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU: das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss, 2018, S. 14) und dass deswegen der Antrag auf Einsetzung eines PUA auch und vor allem auf „(d)ie Rolle des Landesamts für Verfassungsschutz im Untersuchungszeitraum 1993 bis 2011“(Bürgerschaftsdrucksache 22/11437) abzielte. Ganz offenbar wird das Interesse an einer solchen Aufklärung weder bei der SPD noch bei CDU oder Grünen als dringlich gesehen. Um nicht einfach nur als Vertuscher und Behinderer notwendiger Aufklärung zu erscheinen, spendiert man eine „wissenschaftliche, möglichst interdisziplinäre Aufarbeitung“, „die auf Grundlage aller vorhandenen Akten, Dokumente, Datenbestände und anderer Erkenntnisquellen einschließlich der Befragung beteiligter Personen die Geschehnisse und Ermittlungen rund um den NSU-Mord in Hamburg an Süleyman Taşköprü unter gegebenenfalls erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen auswertet und wissenschaftlich aufarbeitet“(Bürgerschaftsdrucksache 22/11561). Einzig die Linken und Miriam Block von den Grünen und Sami Musa von der FDP (vorher SPD) und der fraktionslose Mehmet Yildiz (zuvor Die Linke) haben der Einsetzung eines Untersuchungsausschuss zugestimmt und damit für das Minimum an Aufklärung gestimmt, hinter das man nur um den Preis, es nicht zu genau wissen zu wollen, zurückfallen kann.
Wer trotzdem glauben möchte, dies sei mit der langen Dauer des Zurückliegens der Morde des NSU-Duos zu begründen, der verkennt gründlich, dass es zum einem um neonazistische und Unterstützungsstrukturen ganz allgemein geht und zum anderen natürlich auch um die Involvierung – aktiv und/oder durch Passivität – von staatlichen Strukturen, die bestimmungsgemäß der Sicherheit des Staates und seiner Ordnung dienen sollen. Letztendlich geht es um die Frage, wie systematisch Sponsoring von neofaschistischen Strukturen durch den Staat stattgefunden hat? Mit Funke gesprochen, ist es der Skandal des Verfassungsschutzsystems in der Bundesrepublik, der in Hamburg noch nicht einmal dem Anschein nach parlamentarisch aufgearbeitet werden soll. Die Bürgerschaft beschreibt auf ihrer Seite selbst, warum eine wissenschaftliche Aufarbeitung niemals einen PUA ersetzen kann: „Der Untersuchungsausschuss ist eines der wichtigsten Kontrollinstrumente der Bürgerschaft gegenüber dem Senat. …Die Mitglieder haben große Macht, denn die Regeln des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) orientieren sich an der Strafprozessordnung: Zeugen müssen vor dem Gremium erscheinen und dürfen nur dann die Aussage verweigern, wenn sie sich damit selbst belasten würden“.
Spannend ist nun, dass eine Abgeordnete des Regierungslagers offenbar den Koalitionsvertrag genau gelesen hat und feststellte, dass die Vereinbarung, wonach sich verpflichtet wird, „nicht mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen“, den Zusatz erhält: „Die freie Gewissensentscheidung der/des einzelnen Abgeordneten bleibt hiervon unberührt“(Koalitionsvertrag 2020, 201). Die grüne Nomenklatura sah das erwartbar weniger gelassen: „Weil Block für den Antrag der Linken stimmte, sehen die Grünen in Hamburg das Vertrauen zwischen ihr und dem Fraktionsvorstand als ‚erheblich zerrüttet‘ an, wie ein Parteisprecher zur ‚Hamburger Morgenpost‘ (Mopo) sagte“ (t-online, 20.04.2023). Die Demission von allen Fraktionsämtern steht an und damit beweist die grüne Führung, dass politische Fehler meist die die nächsten nach sich ziehen.
Während Hamburger Sozialdemokraten bei PUA nur noch an den Cum-Ex-Ausschuss denken können, der ihrem Bundeskanzler Scholz erheblich zugesetzt hat und immer noch zusetzt, wären die Grünen relativ frei und hätten dafür sorgen können, dass „das schärfste Schwert des Parlamentes“ sich auch des NSU-Komplexes annehmen kann. Dabei stand ihn mit Maximilian Pichls Untersuchung und seiner deskriptiv-kritische Beobachtung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur NSU-Mordserie, eine ausgezeichnete Begründung in Buchform und dazu noch höchst aktuell zur Verfügung. Statt sich Gedanken zu machen, warum die SPD mit aller Gewalt die Bildung eines Ausschusses hintertreibt, bei dem alle Zeugen unter Eid gestellt werden können und auch ansonsten strafbewehrt die Wahrheitspflicht gilt?
Am Tag des Abstimmung in der Hamburgischen Bürgerschaft retweetete Miriam Block via Twitter: „Innenpolitischer Sprecher der @spdhh, @SoeSchu behauptet, dass bei allen Untersuchungsausschüssen zum #NSU-Komplex nichts herausgekommen wäre bspw. zu Fragen Mitwisser/Komplizen. Das aus #SPD#Hamburg nun auch gelogen wird, um UA zu verhindern, ist krass“. Was Frau Block vielleicht nicht so klar war: ihre Fraktionskollegen hatten sich mit der SPD auf eine Linie geeinigt, die konstitutiv die Geringachtung des PUAs und seines Instrumentariums zur Grundlage eines gemeinsamen Antrages gemacht hatte. Die Gemeinsamkeit der Demokraten mit Ausnahme der Linken stellte damit klar, dass man in schwierigen Zeiten nicht gedachte, Zweifel an der Arbeit des Verfassungsschutzes aufkommen zu lassen. Mit ihrem Verhalten hat Block den grünen Selbstbetrug schwieriger gemacht und eine großzügiges Einräumen der Freiheit des Gewissens kommt hier nur infrage, wenn zugleich festgestellt und durchgezogen wird, dass Abweichlertum nicht für lau zu haben ist. Nach dem bekannten Lied „Die Partei gibt, die Partei nimmt“, übernimmt in diesem Fall die Fraktion diese Aufgabe und legt den Preis für die Freiheit des Mandates fest. Diesmal soll es noch beim Entzug besonderer Aufgaben in der Fraktion bleiben. Frau Block wird das Signal zu deuten wissen und sich entweder rasch reintegrieren, oder dauerhaft von den Weidegründen der Grünen vertrieben werden.
Es bleibt – wie immer sie sich später entscheidet – ihr Verdienst, dem Vorgang skrupeloser Abbügelung des Versuchs minimaler Aufklärung, von in der Hauptsache Staatsversagen im Zusammenhang mit rechtem Terror in Hamburg den Handschlag verweigert zu haben.