Vermummte Männer stürmen, mit Kalaschnikows bewaffnet, ein von Migranten frequentiertes Café in einem Vorort von Moskau. Wer die russische Staatsbürgerschaft habe, solle die Hand heben, brüllt einer von ihnen, zu hören in einem YouTube-Video. „Es sind nur zwei“, sagt ein weiterer Vermummter. Die Männer sind nicht Polizisten, sondern Mitglieder der Russischen Gemeinschaft – der größten rechtsextremen Organisation in Russland. Ihre aktiven Mitglieder, Tausende, organisieren sich in regionalen Gruppen in ganz Russland. In ihren Videos und Beiträgen verkünden sie, russische Städte „von Migranten säubern“ zu wollen. Dafür organisieren sie sogenannte Razzien in Cafés, Migrationszentren und Moscheen und patrouillieren abends durch die Straßen, um Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis festzusetzen und sie der Polizei zu übergeben. Immer wieder stürmen Mitglieder der Vereinigung auch queere Clubs und verprügeln deren Besucher.
Rund 650.000 Menschen folgen ihnen auf Telegram, auf YouTube haben sie mehr als eine Million Abonnenten. Das auf rechte Gewalt spezialisierte russische Analysezentrum Sowa hat im vergangenen Jahr mindestens 136 solcher als Selbstjustiz klassifizierten Angriffe auf Migranten und LGBT-Personen durch organisierte rechtsradikale Gruppen registriert.
Probleme mit den Behörden müssen die Rechtsextremen nicht fürchten. Der Chef des föderalen Ermittlungskommitees Alexander Bastrykin, ein Jugendfreund von Wladimir Putin, soll zum Beispiel mehrfach eine Strafverfolgung der rechtsextremen Gruppe nach Angriffen auf Migranten verhindert haben, berichtete kürzlich die Moskauer Zeitung Kommersant.
Die Russische Gemeinschaft ist nur eine von vielen rechtsextremen Gruppen, die ihren Einfluss in den vergangenen Jahren vergrößern konnten. Zwar behaupten Wladimir Putin und Russlands Staatsmedien immer wieder, in der Ukraine gegen ein Naziregime zu kämpfen. Tatsächlich aber setzt der russische Staat selbst Rechtsextreme wie die Russische Gemeinschaft für ihre eigenen Zwecke ein.
Unter der Obhut der russisch-orthodoxen Kirche kämpft etwa die rechte Gruppe Sorok Sorokow gegen die angeblich drohende Islamisierung Russlands: Die Hunderten Mitglieder demonstrieren gegen den Bau von Moscheen in russischen Städten wie Moskau, Krasnodar oder Rostow am Don und greifen Aktivisten an, die sich gegen den Neubau von Kirchen aussprechen. Andere Gruppen, wie die rechtsextreme Espanola oder Russitsch, sind dem Militär unterstellt und kämpfen direkt an der Front gegen die Ukraine. Ihre Mitglieder rekrutiert Espanola unter gewaltbereiten Hooligans. Das Geld für diesen Einsatz stammt zumindest in Teilen von der staatlichen Eisenbahn RZD und den kremltreuen Oligarchen Arkadi und Boris Rotenberg, wie das russische Investigativportal iStories vor Kurzem aufdeckte.
Nationalistische Trendumkehr
Der staatlich geförderte Rechtsruck dringt bis in den Kern der russischen Gesellschaft. Nach Angaben des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada hat sich die Zahl der Russen, die etwa den Zustrom von Einwanderern als besorgniserregendes Problem betrachten, seit 2022 von 16 auf 33 Prozent mehr als verdoppelt. Die Zahl der Russen, die Zentralasiaten nur vorübergehend oder gar nicht mehr ins Land lassen wollen, ist von 42 auf 56 Prozent gestiegen.
Und das, obwohl die Zahl der neuen Einwanderer im vergangenen Jahr mit 560.000 auf den niedrigsten Stand seit 2013 gesunken ist. Die meisten von ihnen kommen aus zentralasiatischen Ländern wie Usbekistan und Tadschikistan, und wollen in Russland arbeiten. Eine Studie des Sozialinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften ergab, dass etwas mehr als die Hälfte der Befragten glauben, Russland sei in erster Linie ein Staat der ethnischen Russen. 42 Prozent halten Russen für „klüger und talentierter“ als andere ethnische Gruppen im Land. Dieser Rassismus hat zur Folge, dass auch die Gewalt gegen Migranten zunimmt. Das Analysezentrum Sowa registrierte für das gesamte Jahr 2024 260 schwere gewalttätige Angriffe aus dem rechtsextremen Spektrum, darunter einen Mord und einen Mordversuch. Im Jahr zuvor zählte Sowa russlandweit 124 Angriffe und drei Morde.
Der seit drei Jahren laufende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine trägt laut Experten maßgeblich zu dieser Entwicklung bei. „Die tägliche Kriegspropaganda fördert die Gewaltbereitschaft innerhalb der Gesellschaft“, sagt der Politikwissenschaftler Temur Umarow vom Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin. „Sie hat die Entmenschlichung bestimmter, nicht nur in der Ukraine lebender Menschengruppen und das Sprechen von einer angeblichen Überlegenheit ethnischer Russen normalisiert.“
Zu den Opfern gehören nicht nur Migranten, sondern auch russische Staatsbürger, welche den mehr als 150 indigenen Völkern in Russland angehören. Die Angreifer wiederum gehören meist zu einer jungen Generation gewaltbereiter Neonazis, die sich in ihrem Auftreten an den Nazi-Skinheads der Nuller- und Zehnerjahre orientiert.
In den 2000er-Jahren hatte die rassistische Gewalt in Russland ihren bisherigen Höhepunkt. Etwa 65.000 Nazi-Skinheads waren damals aktiv. Der Nationalismusforscher Richard Arnold von der Muskingum University in Ohio, USA, bezeichnete Russland 2006 als „das gefährlichste Land der Welt für rassistische Gewalt“. Amnesty International zählte mindestens 458 rechtsextreme Morde und Tausende Verletzte in den Jahren 2000 bis 2017. Zum Vergleich: In Deutschland zählt man seit 1990 bis heute etwa 220 Tote durch rechte Gewalt.