Rassistische Brandanschläge: Und wieder rufen sie „Ausländer raus“

Am 29. Mai jährt sich der rechte Brandanschlag von
Solingen zum 31. Mal. „Nie wieder“ haben die Regierungsmitglieder gesagt,
die im letzten Jahr auf der großen Trauerfeier zum 30-jährigen Gedenken
gesprochen haben. Auch am 19. Februar haben sie der Opfer des rechtsradikalen
Attentäters von Hanau gedacht, die vor vier Jahren getötet wurden, und auch hier wurde „Nie
wieder“ gerufen. Wie laut werden wir alle das am 23. November tun, wenn sich
der rassistische Brandanschlag von Mölln jährt, und wir die Wahlergebnisse der
Europawahl und der Landtagswahl in Thüringen kennen? Werden wir das „Nie
wieder“ aus uns herausschreien wie einen Bannruf oder mit Erleichterung, dass
es doch nicht so schlimm kam wie gedacht? Denn unser „Nie wieder“, das ist
heute. Mit Sorge schaue ich auf dieses Jahr, das keinen offiziellen deutschen
Gedenktag für die Opfer rechter Gewalt hat, und in dem eine deutsche Partei zur
Wahl steht, die Menschen mit Migrationsgeschichte deportieren will.

Wenn ich an Hass gegen Menschen denke, der Gewalttaten, gar
Kriege auslöst, dann denke ich nicht zuerst an Solingen. Ich denke auch nicht
zuerst an Mölln. Aber ich nenne in diesen Tagen die Namen derer, die in Mölln
und Solingen getötet worden sind. Auch oder gerade, weil hier Frauen und
Mädchen starben. Say her names. Ich
will euch erinnern, damit das, was passierte, für euch nicht vergangen und
vergessen ist, sondern damit es in euren Köpfen und noch mehr in euren Herzen
präsent ist. So präsent wie mein Albtraum in der letzten Nacht, in dem mich
jemand in meiner eigenen Wohnung umbringen wollte.

23. November 1992. Ort: Mölln, eine schleswig-holsteinische
Kleinstadt, Mühlenstraße 9. Täter: zwei weiße Möllner. Sie werfen nachts um eins
einen Molotowcocktail in den Eingangsbereich des Hauses, in dem die Familie
Arslan lebt. Es sterben: Bahide Arslan, 51 Jahre alt, sowie ihre beiden
Enkelinnen, die 14-jährige Ayşe Yilmaz und die zehnjährige Yeliz Arslan. Alle
Opfer werden schlafend vom Feuer überrascht und kommen durch den Brand ums
Leben. Vorher hatte Oma Bahide einen der Täter regelmäßig in ihrem Kiosk verköstigt.

28. Mai 1993. Ort: Solingen, Großstadt in
Nordrhein-Westfalen, Untere Wernerstraße 81. Täter: vier weiße Solinger. Drei von ihnen kommen von einem Polterabend, auf dem sie so angetrunken waren, dass sie des Vereinsheims verwiesen wurden, in dem die Feier stattfand. Sie glauben, von Türken von der Party geschmissen worden zu sein. Sie wollen sich rächen. Gemeinsam mit dem vierten Täter
zünden sie eine mit Benzin übergossene Truhe im Hausflur der Familie Genç an. Es
sterben: Hatice Genç, 18 Jahre alt, und Gürsün Ince, 27 Jahre alt, Hülya Genç, 8
Jahre alt, und Saime Genç, 4 Jahre alt, sowie Gülüstan Öztürk, 12 Jahre alt. Gürsün
und Saime sterben an ihren Verletzungen, nachdem sie aus dem Fenster springen.
Hatice, Hülya und Gülüstan verbrennen. 14 weitere Menschen erleiden schwere, teils bleibende
Verletzungen, auch sie hätten in den Flammen sterben können. Bekir Gençs
Verletzungen sind so schwer, dass er jahrelange Krankenhausaufenthalte über
sich ergehen lassen muss.

Am 23. November 1992 sitze ich vor dem Fernseher in der
Wohnung meiner Familie in der Brückstraße 33 in Wesel am Niederrhein in
Nordrhein-Westfalen. Ich bin noch keine 17 Jahre alt. Der anthrazitfarbene Sony
Trinitron ist mein Fenster zur Welt. Ich habe durch die 60 Zentimeter
Bildschirmdiagonale in unserem Wohnzimmer die Freude der Menschen auf der
Berliner Mauer gesehen. Dann den Hass und die Hetze gegen „Ausländer“ und
„Asylanten“, die applaudierenden
Zuschauenden vor den Asylbewerberheimen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen,
die „Ausländer raus“ schreien. Und nun sehe ich das Bild eines Hauses nach
einem Brand.

Ich sehe nicht, wie Bahide Arslan im Möllner Haus ihren
siebenjährigen Enkel Ibrahim in nasse Handtücher wickelt, um ihn zu retten. Ich
bekomme nicht mit, dass das letzte Wort von Yeliz „Papa“ ist, bevor sie im
Krankenwagen stirbt. Dass ihr Papa Faruk sich danach nicht verzeiht, dass er in
dieser Nacht nicht zu Hause war. Dass er als Täter verdächtigt wird.

Am 28. Mai 1993 sitze ich wieder vor dem Fernseher, wie jeden Tag. Ich habe noch keine Ahnung, wer Familie Genç ist. Dass sie eine ganz normale Familie ist, die sich auf das Opferfest
vorbereitet, eines der höchsten Ereignisse für Musliminnen und Muslime, für das
Gülüstan Öztürk eigens aus der Türkei zu Besuch gekommen ist. Ich bekomme nicht
mit, dass die achtjährige Hülya kaum erwarten kann, ihr neues Festkleid zu
tragen. Aber ich freue mich auch auf das Opferfest.

Am 29. Mai 1993 sehe ich in der Tagesschau ein Haus mit
einem Dach wie ein schwarzes Skelett, acht schwarze Fenster offenbaren ein
völlig ausgebranntes Gebäude. Ein paar Tage später stehen Tausende von Menschen
vor dem Haus, sie trauern, Flaggen hängen über den oberen Fenstern wie
Pflaster oder eher wie Feigenblätter. Menschen, die „nie wieder“ sagen und
meinen.

Am 29. Mai jährt sich der rechte Brandanschlag von
Solingen zum 31. Mal. „Nie wieder“ haben die Regierungsmitglieder gesagt,
die im letzten Jahr auf der großen Trauerfeier zum 30-jährigen Gedenken
gesprochen haben. Auch am 19. Februar haben sie der Opfer des rechtsradikalen
Attentäters von Hanau gedacht, die vor vier Jahren getötet wurden, und auch hier wurde „Nie
wieder“ gerufen. Wie laut werden wir alle das am 23. November tun, wenn sich
der rassistische Brandanschlag von Mölln jährt, und wir die Wahlergebnisse der
Europawahl und der Landtagswahl in Thüringen kennen? Werden wir das „Nie
wieder“ aus uns herausschreien wie einen Bannruf oder mit Erleichterung, dass
es doch nicht so schlimm kam wie gedacht? Denn unser „Nie wieder“, das ist
heute. Mit Sorge schaue ich auf dieses Jahr, das keinen offiziellen deutschen
Gedenktag für die Opfer rechter Gewalt hat, und in dem eine deutsche Partei zur
Wahl steht, die Menschen mit Migrationsgeschichte deportieren will.

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