Rainald Goetz wird 70: Weniger Ich, mehr Welt

In den vergangenen Jahren war Rainald Goetz so wenig in der Öffentlichkeit präsent, dass jeder Auftritt zum Ereignis wurde. Doch kurz vor seinem 70. Geburtstag am 24. Mai erscheinen gleich mehrere Texte gleichzeitig: ein Band mit Theaterstücken und eine Zusammenstellung von Interviews, Essays und Reden, darunter sein Arbeitsjournal vom Frühjahr/Herbst 2019, das soeben auch die Zeitschrift Merkur abdruckte. Es erhielt nicht zuletzt deshalb viel Aufmerksamkeit, weil Goetz sich darin erstmals zum letzten Band der Tagebücher seines einstigen Mentors Michael Rutschky äußerte. In diesen hat Rutschky nicht nur enge Freunde und Bekannte aus einer oftmals „unwohlwollenden“ oder „schlicht verletzenden“ Perspektive porträtiert, wie es der ehemalige Merkur-Mitherausgeber Kurt Scheel im Vorwort formulierte. Die Aufzeichnungen enthalten überdies homoerotische Gedanken an den einstigen „Schüler“ Goetz, für den Rutschkys Tagebuch-Ich „R.“ eine Mischung aus „quälender“ Sehnsucht und Eifersucht empfindet.

Goetz’ kritische Auseinandersetzung mit Rutschkys Aufzeichnungen ist keine persönliche Abrechnung. Sie ist eher Anlass für eine Reflexion über das Tagebuch als Gattung und über ein Problem, das Goetz seit den Anfängen seines Schreibens beschäftigt: die Frage, wie das eigene Ich oder andere reale Personen fiktionalisiert und somit zu öffentlichen Gegenständen werden. Viele der Texte in dem Band mit dem Titel wrong handeln davon, wie Literatur mit der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem umgehen sollte, wie sie Erlebtes in Text verwandelt. Die Textauswahl ist auch deshalb geglückt, weil sie zeigt, wie sich Goetz zu diesem Kernproblem in unterschiedlichen Produktionsphasen und in der Beschäftigung mit wechselnden Gattungen verhält.

Foto: Abbildung aus „wrong“/ Suhrkamp

Die ältesten Texte der Sammlung stammen aus dem Ende einer Schreibkrise in den 2000er-Jahren, in der sich Goetz von einem stark autobiografisch geprägten Ansatz ab- und vor allem dem Roman und dem Theater zuwandte: „Als die Dunkelheit sich lichtete, um 2006 herum, bekam ich wieder ein Gefühl für meine zukünftigen Arbeiten: weniger Ich, mehr Welt, Politik und Wirtschaft.“ Während der Bericht loslabern über den deutschen Literaturbetrieb aus dem Jahr 2009 noch im assoziativen „Ich-Sound“ verfasst war, hat Johann Holtrop (2012) einen Erzähler, der nicht in das Geschehen involviert ist. In loslabern hatte Goetz unter anderem davon erzählt, wie der Springer-Chef Mathias Döpfner von seinen „Offizieren“ Ulf Poschardt und Benjamin von Stuckrad-Barre hofiert wird oder wie die von der Popliteratin zur Ehefrau des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher avancierte Rebecca Casati im „totalsten Spießermilieu als Tischdame“ agiert. Johann Holtrop dagegen hat zwar ein Personal, das an reale Personen erinnert, doch die Namen der Protagonisten und die Handlung sind fiktiv. Dennoch wurde Goetz von der Literaturkritik auch in diesem Fall vorgeworfen, seine Figuren mit „Hass“ zu verfolgen. Goetz’ Antwort auf diesen Einwand lautet, dass er Streit als „öffentlichkeitsfördernden, positiven Vorgang“ begreife. Auch in dem einzigen bislang unveröffentlichten Text, einem Gespräch mit Moritz von Uslar, betont Goetz, wie wichtig es sei, „scharf und gehässig“ zu urteilen.

Urteilt Rainald Goetz zu mild über sich selbst?

Angesichts der Kontinuität, mit der Goetz seit Jahrzehnten den Wert von Hass als Beobachtungshaltung betont, könnte man von dem Fazit überrascht sein, das er aus der Lektüre der Rutschky-Tagebücher zieht: „Nicht schlecht über andere reden. Nicht bösartig scharf beobachten. (…) Güte ist wichtiger als Radikalität.“ In einer Reaktion auf den Merkur-Essay kam Dirk Knipphals in der taz zum Schluss, dass Goetz hier „eine Spur“ zu mild über sich selbst urteile. Schließlich seien ihm scharfe Attacken keineswegs fremd. Entscheidend ist allerdings, dass Hass und Güte bei Goetz in sehr unterschiedlichen Situationen, Gattungen und Medien eine Rolle spielen. Das betrifft erstens die Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Empathie und Güte sind für Goetz immer dann wichtig, wenn es um Interaktionen und Nahbeziehungen geht. Das körperliche Beisammensein hat – wie Goetz vergangenes Jahr noch einmal bei einem Vortrag im Wissenschaftskolleg unterstrich – eine harmonisierende Wirkung. Die Schrift dagegen ist der Ort der Konfrontation. Zweitens geht es in diesem Kontext aber auch um Gattungsfragen. Im Arbeitsjournal heißt es: „Literatur soll vor Negativität bersten, das Tagebuch soll von Güte grundiert sein, wie das Leben.“

Man könnte die Differenz vielleicht so beschreiben: Während Rutschky intime Beziehungen und das ihm privat Anvertraute öffentlich macht, lautet für Goetz die Regel, dass nur das öffentlich gemacht werden sollte, was bereits öffentlich ist. Seine von lustvollem Hass angetriebenen Beobachtungen richten sich nicht auf Privatpersonen, sondern auf öffentliche Figuren. Diese interessieren als Typen, die in sozialen Räumen auf eine bestimmte Art agieren, einen rollenspezifischen Habitus ausbilden und dadurch einen semifiktionalen Charakter haben. Die „bösartige“ Beobachtung solcher Figuren steht für Goetz nicht im Gegensatz zu Empathie und Mitgefühl: „MITGEFÜHL heißt ja nicht, ich trete jemandem zart gegenüber; sondern Mitgefühl heißt: ich kann ihn verstehen.“ Und zwar so gut, dass idealerweise selbst die kritisch dargestellten Personen mit dem Text irgendetwas anfangen können sollen.

Der Privatraum dagegen soll vor dem Zugriff der Publizität geschützt sein. So begründet Goetz auch die Entscheidung, in seinem 2023 uraufgeführten Theaterstück Baracke, das von den destruktiven und gewaltvollen Potenzialen der Familie handelt, gerade nicht die eigene Familie zum Thema zu machen. Dieser müsse man sich in Form eines stummen Nachdenkens widmen: „Wenn man darüber redet, macht man das kaputt, erniedrigt die Dinge, verrät die Nähesten, das Leben, das man mit ihnen führt, und das will ich nicht, und deswegen tue ich das nicht.“ Aus eben diesem Grund ist auch der lange angekündigte Roman Der Henker bislang nicht erschienen. Die Schwierigkeit, die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum auszuloten, ist offenbar so groß, dass sie die Produktivität hemmen kann. Umso schöner ist es, dass die Reflexionen dieses schriftstellerischen Ansatzes jetzt zu lesen sind. Die Lektüre von wrong macht gerade deshalb Spaß, weil die Vorsätze, die hier formuliert werden, kein konsistentes Regelwerk bilden. Die eigenen Positionen werden ständig überdacht und präzisiert: „alles falsch, alles immer wieder: wrong.“

wrong. Textaktionen Rainald Goetz Suhrkamp 2024, 367 S., 23,99 €

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