Als Radiohead in diesem Sommer ihre ersten Konzerte nach sieben Jahren Bühnenabstinenz ankündigten, wollten sie vieles richtig machen. Kein Dynamic Pricing wie bei Oasis, die Ticketpreise sollten keine Dispos sprengen, was heute im Zeitalter gieriger Live-Nation- und Ticketmaster-Großveranstaltungen üblich geworden ist. Alle sollten eine faire Chance bekommen, um an die begehrten Karten zu kommen.
Das Prozedere ähnelte der TV-Show Takeshi’s Castle. Ein Großteil der Bewerber:innen flog schon in der Vorrunde aus. Die wenigen, die einen Registrierungscode ergatterten, konnten sich glücklich schätzen, aber auch mit Code war bei weitem nicht gewiss, ob man Tickets kriegt. Einige flogen aus der Bestellung raus, obwohl der Warenkorb gefüllt war. Andere wiederum verhökerten ihre Codes auf Ebay. Der Frust und die Enttäuschung waren bei vielen groß. Ich unkte, dass es einfacher wäre, ein Pressevisum für eine Einreise nach China zu bekommen.
Am Ende hatten wir es tatsächlich geschafft, Tickets für das erste der vier Berlin-Konzerte zu bekommen, die Radiohead in der Uber Arena spielen. Zweieinhalb Stunden vor Beginn bildeten sich am Montagabend bereits lange Schlangen. Man sah niemanden, der wie sonst üblich Tickets zum Verkauf anbot. Wie Gollums Schatz hüteten alle ihre Karten. Grober Nieselregen machte die Anoraks schwer. Die Erwartungshaltung erhöhte das Gewicht auf den Schultern zusätzlich.
In die Fast Lane darf, wer kürzlich mit einem Uber fuhr oder bei Uber Eats bestellte
Radiohead haben sich in ihrer über 30-jährigen Karriere oft verweigert. Klassische Rockschablonen wurden umschifft. Keine Breitbeinigkeit, kein Glam, keine offensichtlichen Stadion-Attitüden wie bei Coldplay, U2 oder Foo Fighters. Dabei hätte alles, aus kommerzieller Sicht, so einfach sein können.
Der Durchbruch-Song Creep wurde bei Konzerten konsequent nicht gespielt, wenn auch stets vom Publikum eingefordert. Mit jedem Album starteten sie auch eine Flucht nach vorn. Jetzt sind sie aber Superstars, wahrscheinlich hätten sie in Berlin vier Wochen am Stück spielen können, sie hätten jeden Abend ausverkauft. Wie kann man Understatement, Kunst und Bombastverweigerung überhaupt leben, wenn man doch ganz oben ist?
Während der letzten sieben Jahre ist in der Veranstaltungsbranche viel passiert. Das sieht man auch in der Uber Arena. Es gibt eine Fast Lane wie am Flughafen, in die man sich nur einordnen darf, wenn man entweder Mitglied bei Uber One ist oder vorweisen kann, dass man in den letzten sieben Tagen entweder mit einem Uber gefahren ist oder bei Uber Eats etwas zu essen bestellt hat.
Es ist an Absurdität nicht zu überbieten und zeigt, wie höllengleich und geisteskrank perfide Marketing heute funktioniert. Dafür können Thom Yorke und seine Bandkollegen nichts, aber es ist ein weiteres Exempel für das oft strapazierte Adorno-Bonmot, dass es nichts Richtiges in einer falschen Welt geben kann. Die oligopolistische Musikwelt wird von Jahr zu Jahr zu einem hässlicheren Monstrum.
Jonny und Colin Greenwood, Ed O’Brien, Phil Selway und Thom Yorke beginnen mit dem Opener Planet Telex ihres 95er-Albums The Bends. Viele der 17.000 Zuschauer:innen waren da noch gar nicht geboren. Anders als bei vielen anderen abgehangenen Rockbands der 90er ist ein Großteil des Publikums extrem jung. Ein eindeutiger Beweis, dass die TikTok-Generation sehr wohl Interesse an guter Musik hat, und auch nicht ständig am Handy hängt und die Hälfte von Konzerten verpasst, weil sie ihrer Followership ihre einmaligen Momente unter die Nase reiben wollen. Selig interagieren sie mit der Musik, das Glück quasi haptisch greifbar.
Radiohead wirken, als hätten sie sich selbst neu in ihre Songs verliebt
Die Bühne, mittig im Innenraum platziert, ist da noch mit Projektionsflächen umrahmt wie ein hochgezogener MMA-Käfig. Die Hochkant-Screens wandern wie ein Vorhang nach oben, machen langsam den Blick frei auf die Band. Thom Yorke mit schwarzem T-Shirt und Baggy Pants bewegt sich viel, und singt während des Konzerts in Richtung aller Sektoren der Multifunktionshalle. Es sollen eben alle was von seinen schamanenhaften Tanzmoves mitkriegen. Niemand darf zu kurz kommen.
Vergangene Woche musste er noch krankheitsbedingt zwei Konzerte in Kopenhagen absagen, seine Stimme lässt an dem Abend durchaus jene Brillanz und Präsenz vermissen, die ihn in den vergangenen Jahrzehnten so auszeichnete. Aber Radiohead gelten auch deshalb als eine der besten Bands der Welt, weil jeder Einzelne ein großartiger, wenn nicht genialer Musiker ist. Und das beweisen sie in den kommenden zwei Stunden mit unglaublicher Spielfreude. Als hätte die Band sich nach den Jahren der Pause erneut in ihre alten Songs verliebt und nun teilt sie diese wiederentdeckte Liebe mit den Menschen. Aber es kommt auch nicht minder viel Liebe von den Menschen zurück. Das sind jene Momente, die zeigen, wozu Livemusik in der Lage sein kann.
Beim ersten Drittel des Konzerts muss man sich den Zugang erarbeiten. Sperrigere Songs wie The Gloaming, Kid A und 15 Step werden zwar von den OK-Computer-Hymnen Lucky und No Surprises flankiert. Aber Radiohead machen es sich nicht einfacher als nötig. Ihren Status haben sie sich eben auch durch komplizierte und fordernde Musik erarbeitet. Die Projektionen zeigen hauptsächlich gefilterte Nahaufnahmen der Musiker. Sie suggerieren die Intimität, die viele ihrer Songs eigentlich brauchen. Die Lichtshow ist fokussiert und pointiert, irgendwie dennoch spektakulär, aber nie überbordend oder effekthascherisch.
Nach dem impressionistischen Videotape gehen zwanzig Sonnen auf, als Weird Fishes/Arpeggi gespielt wird. Die Halle konsolidiert sich zu einem Organ. Es scheint schwer zu glauben, dass so etwas mit so einem Song überhaupt möglich ist. Es folgen zwei elektronische Klassiker von Kid A (Idioteque, Everything In Its Right Place), jenem Album, das einst die Rockmusik der 90er beerdigte und zugleich neu erfand. Auf den Rängen erheben sich immer mehr Menschen, Tränen der Ergriffenheit werden bei All I Need und Let Down weggewischt und dann verabschiedet sich die Band nach Bodysnatchers von der Bühne. „I’ve seen it coming / They’ve seen it coming / They’ve seen it coming“.
Wie ein Abspann läuft am Ende die Menschenrechtscharta der UNO
Die Zugabe ist nochmal ein Greatest Hits innerhalb dieses unfassbar kuratierten und bewegenden Best-of-Abends. Sie beginnt mit Fake Plastic Trees und schließt mit Karma Police. Während des gesamten Konzerts verzichten Radiohead darauf, mit dem Publikum zu sprechen oder groß zu interagieren. Hier und da ein vereinzeltes schüchternes „Thank you“. Kein „Berlin, du bist die geilste Stadt“ oder „Leute! Wo seid Ihr?“.
Radiohead standen zuletzt oft in der Kritik, weil sie sich anders als viele andere britische Stars von der pro-palästinensischen BDS und ihren Boykotten distanzierten. Man hätte politische Statements erwarten können, sie wissen aber auch, dass ihre Musik zu groß und transzendental ist, um für politische Debatten instrumentalisiert zu werden. Stattdessen läuft nach Ende des Konzerts die internationale Menschenrechtscharta der UNO wie bei einem Filmabspann auf den Leinwänden. Universelle Rechte für alle Menschen, die nicht in Frage gestellt werden dürfen, weil man sich in unzähligen verfahrenen Debatten verfängt. Nicht weniger universell ist die Musik von Radiohead. Diese hallt und wirkt nach, und ist auch nach Jahrzehnten frei von Klischees und plumpen Euphorien.
Wir treffen nach dem Konzert ein junges liebenswertes Pärchen aus Prag, das ohne Konzerttickets angereist ist, aber das Glück hatte, reinzukommen. Wir sprechen mit Bieren und Rotkäppchen in der Hand über das Konzert. Es stellt sich heraus, dass sie nicht wissen, wie sie wieder nach Hause kommen sollen, auch weil sie ihr ganzes Geld für dieses Abenteuer ausgegeben haben. Wir helfen ungefragt aus, ohne Bedingungen zu stellen wie eine Uber-One-Mitgliedschaft. Sie umarmen uns voller Dankbarkeit. Man kann nicht immer alles richtig machen. In diesem Moment hat es sich richtig angefühlt.