Psychologische Studie: Sind die Jahre zwischen 55 und 60 doch die besten?

Fängt mit sechsundsechzig das Leben erst an, wie Udo Jürgens mutmaßt? Oder sind mit sechzig bereits alle denkbaren Höhepunkte erreicht und das „geistige Funktionsoptimum“ überschritten, von der als superlative Richtgröße die Verhaltenspsychologie spricht? Dieses Funktionsoptimum liegt laut einer in der Fachzeitschrift „Intelligence“ veröffentlichten Studie zwischen dem 55. und 60. Lebensjahr. Aber ist das nicht eine schreiend wirklichkeitsfremde und eminent unphilosophische Betrachtungsweise? Weiß der aseptische Begriff des Funktionsoptimums, was er erklären möchte? Ist ein Funktionsoptimum genau dann erreicht, wenn alles optimal funktioniert? Ein nichtssagender Zirkelschluss mehr?

Ist das Optimum nicht eine Frage der Philosophie?

Warum läuft die Lektüre psychologischer Studien allzu häufig auf den Eindruck hinaus: Den unphilosophischen Menschen in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf? Philosophie hier nicht als eine Fachdisziplin begriffen, sondern als ein Weltverhältnis, das sich nicht im blödsinnigen Anschmiegen an technische Abläufe erschöpft, sondern diese Abläufe distanzierend befragt auf ihren Erkenntnisbeitrag hin. Das menschliche Optimum, wenn eine solch kompetitive Kategorie fürs Humanum überhaupt denkbar sein sollte, ist auf diese Weise unhintergehbar philosophisch bestimmt (nicht technisch, nicht an Fitness orientiert, ja, überhaupt nicht in Parametern der Leistung messbar). Denn Leben heißt Durchwursteln, für ideologische Zugriffe, von denen die Psychologie in ihren Erklärungsansprüchen nicht frei ist, gilt das als eine skandalöse Aussage.

Wie möchte man unter den Lebensspannen eine Superform auszeichnen, die sich just zwischen 55 und 60 ausbildet? Schon mal davon gehört, dass das geistige Funktionsoptimum ausgerechnet in größten Leidenszuständen erreicht werden kann, vom Lebensalter ganz unabhängig? Lawrence Kohlbergs Buch „Psychologie der Lebensspanne“, eine Sammlung von Texten zur philosophischen Qualität der menschlichen Entwicklung, führt nicht nur die Annahme der fünf Superjahre ad absurdum, sondern hat auch methodisch Maßstäbe gesetzt. Dem Harvard-Professor für Erziehungswissenschaften ging es bei seiner strukturellen Herangehensweise doch stets um die Unterscheidung von Idealtypus und Durchschnitt. „Ein Idealtypus“, so Kohlberg, „beruht nicht auf den durchschnittlichen Charakteristika einer Gruppe von Menschen, sondern auf bestimmten individuellen Fällen, die eine theoretische und logische Einheit am eindeutigsten repräsentieren.“

Fünf tolle Jahre – soll es das gewesen sein?

Solche feinen Unterscheidungen gehören freilich nicht zu den Tugenden gegenwärtiger Verhaltenspsychologie, die um digitale Aufmerksamkeit bemüht ihre Studienergebnisse heraushaut, sehr viel plakativer oft, als die Untersuchungen es hergeben. Wie soll man denn nun diese Auskunft verstehen: Ihr geistiges Funktionsoptimum erreichen Menschen zwischen 55 und 60 Jahren? Die beiden Forscher, die hinter den fünf tollen Jahren stehen, leiten ihr Musterergebnis aus einer „kombinierten Perspektive“ von Kognition und Persönlichkeit her, insgesamt 16 psychologische Dimensionen seien berücksichtigt worden, darunter logisches Denken, Gedächtnisleistung, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Wissen und emotionale Intelligenz – Begriffe, deren jeder eine philosophische Befragung über sich ergehen lassen müsste, was genau mit ihnen gemeint sei, um etwas auszusagen, hier jedoch als selbsterklärend vorausgesetzt werden.

Was, bitte, ist mein Optimum? Und was die Ebbe davor und danach? Was sind solche Zuschreibungen wert, wenn sie ohne Verhältnisbestimmung zum jewei­ligen Individuum bleiben und mit ihrem windigen Wahrheitsanspruch uns glauben machen möchten, dass mit 55 die besten Jahre kommen, welche dann mit 60 schon wieder hinter uns liegen? Hier zeigen sich nicht etwa nur Ungenauigkeiten eines ansonsten plausiblen Befunds. Sondern ohne die Kohlberg’sche ­Reservehaltung fliegt das ganze psychologische Spiel auf: Es wird falsch, läuft nur scheinbar rund, wenn es uns vorschreiben möchte, wo unsere fünf optimalen Jahre liegen. Was hat solche Optimierungspsychologie noch mit dem wirklichen Leben zu tun, seinen geheimen Antrieben und ­Lethargien, uns tagtäglich bestimmend bar jeder Altersangabe?

Die 16 aufwendig kombinierten psycholo­gischen Dimensionen fallen wie ­Mikadostäbe auseinander, sobald ein einziger wirklicher Mensch mit seiner konkreten Lebensgeschichte ins Spiel kommt: ich und du.

Source: faz.net