Psychologe: „Diese Asylpolitik macht aus dem Flüchtling ein Angstobjekt“

Es gibt in der Debatte um Asyl und Migration die Sachlage, die Probleme und möglichen Lösungsansätze. Und dann gibt es die Gefühlsebene: die Ängste und die Affekte. Die Herausforderung besteht darin, dass beide Ebenen die ganze Zeit durcheinandergehen, dass sie scheinbar untrennbar verbunden sind. Wie kann man sie entwirren? Und welche Politik bräuchte es, die auch den Affekten guttun würde?

der Freitag: Herr Bohleber, die politische Diskussion zum Thema Migration dreht sich derzeit schnell. Zu wenig Kitaplätze, zu hohe Mieten: Alles wird besser, scheint es, wenn wir nur endlich die Grenzen schließen. Affekte spielen hier offensichtlich eine große Rolle: Manche Leute nehmen einen Kontrollverlust wahr. Ist diese Angst ein bloßer Affekt, oder begründet?

Werner Bohleber: Ich würde sagen: Affekte muss man immer ernst nehmen. Weil sie das Denken und Handeln der Menschen mitbestimmen. Dass die Debatte jetzt nach Solingen so hochkocht, liegt in meinen Augen auch an dem Umstand, dass es ein Messerangriff war, und diese sich zu häufen scheinen. So ein Messerattentat wie in Solingen hat psychologisch einen etwas anderen Effekt als ein Terroranschlag auf ein Gebäude: Es ist ein Attentat inmitten einer Menschenmenge, die feiert, da fühlt sich der Einzelne eher bedroht, als wenn es ein Anschlag auf den Kölner Dom oder ein ähnliches Ziel ist. Das löst Ängste aus, weil man so hilflos ist, so ausgeliefert. Man kann sich nicht wirklich zur Wehr setzen. Es ist also durchaus verständlich, dass viele Menschen deshalb verunsichert oder verängstigt sind.

Auch weil man so wenig gegen einen Angriff wie den in Solingen machen kann.

Genau. Wenn jetzt über Klingenlängen oder Messerverbote diskutiert wird: Das kann man machen, aber es ist eigentlich ein ohnmächtiger Versuch, das Problem auf diese Weise in Griff zu kriegen. Noch dazu, weil das Attentat nicht das letzte gewesen sein wird: Es wird Nachahmungstäter geben, gerade weil das für so viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, sprechen auch Leute darauf an, die dazu neigen, solche Angriffe zu starten. Die Ängste aber, die auch durch das große mediale Echo entstehen, die muss man ernst nehmen und versuchen, rationale Strategien dagegen zu entwickeln.

Angst, Verunsicherung, das liegt ja erst mal nur im privaten, persönlichen Bereich.

Wir sehen, dass genau diese Ängste derzeit politisch benutzt werden. Auch bei den Diskussionen über die Wahlen in Sachsen und Thüringen schien das einzige Thema Migration zu sein. Es wird also Politik gemacht mit den Ängsten, die durch diese Anschläge entstanden sind. Was daran vor allem bedenklich ist: sie schürt eine Regression des Denkens. Angst schnürt das Denken ein, das ist einfach so.

Sie müssten genauer erklären, was Sie damit meinen.

Das Denken geht auf eine regressivere Stufe. Weil man kein Sicherheitsgefühl mehr hat. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, dass der Mensch sich sicher fühlen muss. Durch das Erleben von echten oder gefühlten Bedrohungen nimmt das Sicherheitsgefühl ab, dadurch entstehen Verunsicherung, Hilflosigkeit, Ohnmachtsgefühle. Es ist eine zentrale politische Herausforderung, darauf politisch angemessene Strategien zu finden.

Werner Bohleber, geboren 1942, arbeitet als Psychoanalytiker in Frankfurt am Main. Daneben forscht er zum psychoanalytischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, zu Fremdenhass und Antisemitismus und der Traumaforschung

Ich höre heraus, dass Sie nicht denken, dass die derzeitige Diskussion darauf abzielt, politische angemessene Antworte zu finden?

Ich finde es bedenklich, wenn man – wie Friedrich Merz – von einem Kontrollverlust redet, und als Konsequenz dann ein Ultimatum setzt, die Regierung solle beschließen, Asylanträge schon an den Grenzen zu bearbeiten und alle zurückzuweisen, die schon in einem anderen Land hätten Asyl beantragen können. Wenn man das ernst nimmt, betrifft es doch alle Asylbewerber, die an Deutschlands Grenzen ankommen; also müsste man alle abweisen, was in der Realität nicht funktionieren kann, wenn die anderen Länder, wie es der Fall ist, sich weigern, die Menschen zurückzunehmen. Es ist also eine unrealistische Vorstellung, aber keine rationale Strategie.

Es ist die Fantasie, die Grenzen dicht zu machen?

Ja, das steht dahinter. Europa als Bollwerk, wir ziehen die Mauern hoch und bleiben unter uns. Wodurch man suggeriert: Dann sind wir sicher. Die Gefahr ist weg. Als Analytiker würde ich sagen: Man projiziert die Gefahr auf den Fremden, und denkt, wenn man ihn los wird, wird man auch die Gefahr los.

Praktisch ist es unmöglich, ein Land wie Deutschland vollkommen abzuschotten, de facto ist die Grenze immer mehr oder weniger durchlässig. Bei manchen Menschen löste schon die Abschaffung der Grenzkontrollen durch das Schengen-Abkommen Unbehagen aus, es war ein bisschen weniger Kontrolle als vorher. Dann kam 2015, was oft als Grenzöffnung von Merkel dargestellt wird. Tatsächlich hat sie die Grenzen nicht geschlossen, es kamen hunderttausende Menschen auf einmal, die nicht wirklich kontrolliert wurden. Seitdem scheinen viele Leute davon überzeugt, dass das nicht gut war und nur schlimme Folgen haben kann. Wie genau funktionieren derartige Vorstellungen über die Landesgrenzen?

Das hängt damit zusammen, dass im Denken das eigene Land als eine Einheit vorgestellt wird, eine Einheit wie ein Körper. Nicht umsonst sind die Metaphern für die eigene Nation Körpermetaphern, etwa wenn man vom Volkskörper spricht, oder vom Vaterland, oder wenn man von den Organen und Gliedern der staatlichen Gemeinschaft spricht. Wenn Menschen unter dem Einfluss einer solchen Vorstellung von der Nation als einer sie bergenden Einheit stehen, dann erleben sie eine offene Grenze als unmittelbare Bedrohung, so, als wären sie unmittelbar in der eigenen Persönlichkeit bedroht. Das ist eine Fantasie, in der das kollektive Level und das persönliche Leben ineinanderfließen.

Mir scheint, dass genau das jetzt gerade bei vielen Menschen passiert und deswegen der Wunsch, die Kontrolle wieder herzustellen und die Grenzen zu schließen, so stark wird. Die von Merz geforderten Zurückweisungen sind offensichtlich etwas, das für viele Menschen sehr beruhigend wirkt: Man schickt alle wieder weg und stellt dadurch die Kontrolle wieder her.

Ja klar, aber das ist völlig irrational. Man kann das praktisch nicht umsetzen. Trotzdem wird politisch jetzt damit hantiert. Was dabei verloren geht, ist der humanitäre Aspekt, also der Gedanke, dass der Andere, der Fremde ein Flüchtling ist, also ein Mensch, der viele Entbehrungen auf sich genommen hat, der seine Heimat aufgegeben hat und geflohen ist. Das verschwindet vollkommen, er wird zum Fremden und zum Angstobjekt, vor dem wir uns schützen müssen. Das ist das, was ich mit regressivem Denken meinte. Und wenn die Politik sich dessen bedient, wird es gefährlich.

Dabei muss das Versprechen, auf diese Art und Weise Sicherheit herzustellen, notwendigerweise enttäuscht werden: Es ist nicht erfüllbar, nicht umsetzbar, teilweise, weil es rechtlich nicht geht, teilweise weil die Polizei nicht genügend Leute hat. Man verspricht also im Grunde die Illusion von Sicherheit.

Ja, wir sollten auch vorsichtig sein, welche Bilder wir verwenden und entwerfen, um diese Entwicklungen zu beschreiben. In den 1990ern, da gab es schon mal eine Zeit, in der Fremdenhass und Ängste vor Asylsuchenden grassierten, da wurden von den Medien oft Bilder von Menschenmassen gezeigt, die vor einer Schranke stehen oder vor einem Zaun, den sie überwinden oder durchbrechen könnten. Da ist ja der Kontrollverlust schon im Bild mit gezeigt. 2015 hätte es auch so kommen können, wenn Merkel die Grenzen zugemacht hätte. Dann hätte man ebenfalls Bilder gehabt von Zäunen und Schlagbäumen, vor denen sich Menschen stauen. Aber aus guten Gründen haben wir damals die Grenzen nicht dicht gemacht; Merkel konnte das nicht machen, weil sie grade aus einem Staat kam, der die Grenze dicht gemacht hatte. Damals war die Gesellschaft sehr viel offener, so konnte die Liberalität die Oberhand gewinnen. Da hat sich einiges verändert.

Woher kommt die Verunsicherung, die die Menschen empfänglich für das regressive Denken macht? Und wie könnte man ihr begegnen?

Eine gute politische Antwort wäre es, darauf einzugehen, aber eben Lösungswege aufzuzeigen. Es ist ja nicht zu leugnen, dass der deutsche Staat derzeit große Probleme hat, die ankommenden Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. Die Ausländerämter sind völlig überfordert. Also müsste der Staat zeigen, dass er etwas dagegen unternimmt, dass er mehr Leute einstellt, Ressourcen einsetzt, um mit den Flüchtlingen und den Migranten anders umzugehen. Er müsste Wege vorzeigen, die Lösungen sind, nicht immer nur die Botschaft übermitteln, dass die Ämter völlig überfüllt sind, die Politik überfordert und so fort. Er könnte auch öfter darauf hinweisen, wie viele von den syrischen Flüchtlingen von 2015 mittlerweile schon in Arbeit sind und gut integriert.

Positive Nachrichten sind halt viel langweiliger als Negativschlagzeilen. Und gibt es überhaupt so viel Positives zu berichten?

Ich bin überzeugt, dass der Staat das Thema Migration und Integration sachlich ernster nehmen und sich auch politisch und finanziell mehr engagieren sollte. Wenn der Eindruck entsteht, dass er handlungsfähig ist, und Wege findet, mit den Problemen konstruktiv und lösungsorientiert umzugehen: dann würde er dadurch mehr echte Sicherheit vermitteln.

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