Prinz Harry: Metaphysische Maskottchen

In der Serie „Politisch motiviert“ ergründen unsere Autoren das überwölbende politische Thema der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 02/2023.

Als Kaiser Hirohito am 15. August 1945 im Radio die Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg verkündete, war die dünne Stimme des Staatsoberhaupts für dessen Landsleute ein Novum. Denn es handelte sich um seine erste öffentlich übertragene Rede. Dazu noch in einem gedrechselten Hofjapanisch, das viele kaum verstanden. Firmierte der Tenno qua Amt als „himmlischer Herrscher“, hatte er Öffentlichkeit zuvor nicht nötig. Die übermenschliche Aura Hirohitos speiste sich allein aus seiner monarchischen Rolle, die individuelle Persönlichkeit war unbedeutend. Aus diesem Grund nötigten die USA den Kaiser alsbald zu einer weiteren Radioansprache, in der dieser bekennen musste, er sei doch kein Gott. Dass diese Entsakralisierung funktionierte, zeigte sich exemplarisch an Hirohitos späterem Besuch in Disneyland, bei dem der Kaiser schüchtern neben Micky Maus steht.

Anhand dieser historischen Kontrastfolie wird deutlich, dass die britische Monarchie schon lange ganz anderen Regeln der Selbstdarstellung folgt. Während des Zweiten Weltkriegs besuchten die Windsors etwa vom deutschen Bombenhagel zerstörte Stadtviertel, die spätere Queen Elizabeth II ließ sich im Heer als Lastwagenfahrerin ausbilden und mischte sich nach der Kapitulation von Nazideutschland inkognito unter die jubelnde Menge Londons.

In der Westminster-Demokratie nehmen die Royals eine zwiespältige Rolle ein. Sie repräsentieren gleich alle drei Herrschaftsformen, die einst vom Soziologen Max Weber typisiert wurden. Zum einen verkörpern sie die traditionale Herrschaft, eine monarchische Ordnung, die sich in der Heiligkeit des Althergebrachten begründet. Durch ihre Einbindung in die parlamentarische Demokratie ist die Königsfamilie ebenfalls Teil der legalen Herrschaft, die auf Gesetzen und geregelten Verfahren beruht. Und schließlich legitimiert sie sich mittels charismatischer Herrschaft, die Royals erlangen die Sympathie der Briten ebenso durch persönliche Ausstrahlung und gefühlte Nähe.

Diese prekäre Balance zu halten, gestaltete sich im Zuge der Mediendemokratie deshalb immer schwieriger, weil die Illusion von Berührbarkeit wichtiger wurde. Das zeigte sich nicht nur daran, dass das britische Königshaus mit Prinzessin Diana, der „Königin der Herzen“, enorm an Zustimmungswerten gewann, sondern auch daran, dass diese 1997 in den Keller rauschten, nachdem Elizabeth II in den Augen vieler Briten zu kaltherzig auf den Unfalltod ihrer Schwiegertochter reagiert hatte.

Das macht deutlich, dass die Windsors heute mit einer paradoxen Konstellation konfrontiert sind: Die Herrschaft der Krone, die zumindest der Fiktion nach auf einer göttlichen Ordnung beruht, ist in der Bevölkerung umso beliebter, je menschlicher sie verkörpert wird.

Der praktische Umgang mit diesem Widerspruch zeigte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit: Während die britische Monarchie einerseits regelmäßig den zeremoniellen Pomp auffuhr und sich stoisch an die „never complain, never explain„-Regel hielt, wurde sie andererseits zum permanenten Ziel einer Regenbogenpresse, die jedes noch so kleine Detail royaler Privatleben ausleuchtete. Die Folge: Die Windsors wirken stets heilig und profan zugleich, sind sowohl ehrfürchtig angehimmelte Staatsschauspielerinnen als auch Gegenstand des dreckigsten Gossips.

Dass es dieser obskure Dualismus ist, der der Königsfamilie die Rolle des metaphysischen Maskottchens in einer modernen Demokratie erst ermöglicht, wissen die Windsors offenbar selbst nur zu gut. Zumindest wenn man Prinz Harry glaubt, der in seinem rekordverkauften Buch Reserve behauptet, Mitglieder seiner Familie hätten intime Details aus dem royalen Privatleben immer wieder an die Presse durchgesteckt.

Wenn Harry in seinen Bekenntnissen also anklagt, die Königsfamilie wahre vordergründig die ehrwürdige Form, stachele hintenrum jedoch selbst den Klatsch mit an, trifft er damit en passant den Kern royaler Repräsentationslogik: In vollem Ornat versprühen die Windsors die übermenschliche Aura des Monarchischen, erscheinen auf den Seiten der Yellow Press hingegen alltäglich. Nur beruht der Erfolg dieses Zusammenspiels eben auf einer strikten Trennung der beiden Sphären. In dem Moment, in dem Royals öffentlich selbst den Gossip produzieren, gerät das prekäre Verhältnis aus der Balance und die Königsfamilie leidet an einem Überschuss an Allzumenschlichem.

Sollte Harrys Buch, so wie manche Kritikerinnen meinen, als Rache an seiner Familie gemeint sein, wäre diese gleich doppelt kaltblütig: Es spricht offen das Erfolgsgeheimnis der Royals aus, nur um es dann selbst zu unterlaufen. 

PolitikQueenUSAWissen